Fünfmal gab es in den vergangenen 540 Millionen Jahren gewaltige Artensterben, nun gibt es offenbar eine sechste Welle. Jährlich gehen zehntausende Tierarten verloren. Das kann immense Auswirkungen haben.
Hamburg. Mammuts, Terrorvögel, Säbelzahntiger, sieben Meter hohe Faultiere: Die Liste der Riesen, die noch im Pleistozän – also jenem Zeitalter, das vor etwa 11.000 Jahren endete – die Erde bevölkerten, ist lang. „Heute sind wir mit einer ziemlich verarmten Tierwelt zurückgeblieben, und wir verlieren weiter Arten“, heißt es in einem Themenschwerpunkt im Fachmagazin „Science“. Wenn auch noch debattiert, so gelte doch als immer sicherer, dass der Mensch für das Aussterben der Fauna des Pleistozän verantwortlich war – und nach wie vor Arten ins Aus drängt.
Fünfmal gab es in den vergangenen 540 Millionen Jahren gewaltige Artensterben, zeigen Fossilienfunde. Forscher sehen eine sechste Welle in vollem Gange. Allein seit 1500 seien mehr als 320 terrestrische Wirbeltiere ausgestorben, die Bestände der verbliebenen seien im Schnitt um ein Viertel geschrumpft, schreiben Wissenschaftler um Rodolfo Dirzo von der Stanford University in „Science“. Ähnlich düster sieht es demnach bei den Wirbellosen wie etwa Insekten aus.
Das Ausmaß des Artenschwunds könne mit den fünf bisherigen großen Aussterbewellen der Erdgeschichte vergleichbar sein. Aus evolutionärer Sicht sei das Aus für einzelne Arten von großer Bedeutung. Dabei werde aber leicht übersehen, dass schon ein Rückgang einzelner Spezies und eine veränderte Artenzusammensetzung immense Auswirkungen haben können.
Amphibienarten stärker bedroht als Vögel
Derzeit gehen von den – vorsichtig geschätzt – fünf bis neun Millionen Tierarten weltweit wohl jährlich 11.000 bis 58.000 verloren, heißt es in dem Bericht. Das Verschwinden oder der Rückgang von Arten nur in einzelnen Regionen sei dabei nicht berücksichtigt. Und es betreffe nicht alle Tiergruppen gleich: Mit 41 Prozent gelten demnach weit mehr Amphibienarten als bedroht als Vögel (17 Prozent). Zudem gebe es regionale Unterschiede: Groß sei die Zahl gefährdeter Arten vor allem in tropischen Gegenden.
„Science“-Autor Erik Stokstad beschreibt in einem weiteren Artikel ein erschreckendes Beispiel: die Entwicklung des Lambir Hills Nationalparks im Westen der Insel Borneo. Dieser sei einer der vielfältigsten Wälder der Welt – zumindest gewesen. In den vergangenen drei Jahrzehnten schwanden demnach etliche größere Tiere wie Flughund, Malaienbär, Gibbon und Rhinozeroshornvogel aus dem Park. Präsent blieben vor allem Tiere mit weniger als einem Kilogramm Gewicht: kleine Vögel, Nager, Geckos – für die vielen illegalen Jäger als Beute uninteressant.
Bis in die 1980er-Jahre hinein habe zunächst nur ein rumpeliger Weg für den Holztransport zum Park geführt; das Rauschen der Schwingen großer Schildhornvögel habe die Luft erfüllt. Inzwischen sei die Straße asphaltiert und der Park eine einsame Insel inmitten von Palmölplantagen. Schildhornvögel gibt es hier nicht mehr, auch kaum mehr Bartschweine und andere größere Pflanzenfresser. Auch in vielen anderen Wäldern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gebe es nur noch kleine, für Jäger uninteressante Tiere, schreibt Stokstad. Das sei nicht nur traurig, sondern auch folgenreich. „Ein leerer Wald ist ein verlorener Wald“, so Kent Redford von der Universität Floridas.
In einem 52 Hektar großen Gebiet von Lambir Hills werden seit 1991 alle fünf Jahre von Smithsonian-Forschern aus den USA in monatelanger Arbeit alle zunächst rund 370.000 Bäume und Schösslinge erfasst und vermessen. Inzwischen gebe es ein Viertel mehr junge Bäumchen als zu Beginn der Zählung – wohl, weil es an größeren Pflanzenfressern zum Ausdünnen mangele. Zu dichtes Wachstum aber könne die Ausbreitung von Pflanzenkrankheiten fördern, erklärt Stokstad. Ein weiteres Ergebnis: Die Verteilung der Baumarten verändert sich. Spezies, deren Samen vom Wind verbreitet werden, hätten nun einen Vorteil gegenüber solchen mit Früchten, die für die Verbreitung auf Tiere angewiesen seien. Vor allem bei Bäumen mit großen Früchten sei zu sehen, dass diese vermehrt nur noch nahe der Elternbäume heranwachsen.
Jede Veränderung hat Folgen
Analysen zeigen, dass die Folgen des Verlustes an Biodiversität denen von Umweltverschmutzung und Überdüngung vergleichbar sind, schreibt Dirzos Team. Mit jeder Veränderung würden Folgeveränderungen in Gang gesetzt. Ein eindrucksvolles Beispiel ist demnach die Bestäubung durch Insekten – wichtig für drei Viertel aller vom Menschen angebauten Nahrungspflanzen. „Bestäuber scheinen weltweit zu verschwinden – sowohl hinsichtlich ihrer Zahl als auch der Artenvielfalt.“
Eine weitere Kaskade betreffe die für den Pflanzenanbau relevanten Schädlinge: Fielen deren Fressfeinde, etwa kleine Wirbeltiere, weg, könnten verheerende Massenvermehrungen folgen. Insekten und andere Arthropoden seien für acht bis 15 Prozent der Ernteverluste bei den wichtigsten Feldfrüchten verantwortlich. „Ohne natürliche biologische Kontrolle könnte dieser Anteil auf 37 Prozent steigen.“ Allein in den USA werde der ökonomische Wert solcher Fressfeinde auf 4,5 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt.
Der Verlust an Tierarten werde sich auch auf vielen anderen Wegen auf den Menschen auswirken, betonen die Forscher. Demnach gelten zwischen 23 und 36 Prozent der vom Menschen als Nahrung genutzten Vögel, Säugetiere und Amphibien als bedroht.
Mit Möglichkeiten, den Artenschwund aufzuhalten, beschäftigten sich in einem weiteren Bericht Forscher um Philip Seddon von der neuseeländischen Universität von Otago in Dunedin. Zwischen 1900 und 1992 habe es Auswilderungsprojekte für 124 Arten gegeben, 2005 bereits für 424 Arten. Dabei gebe es ein heftiges Ungleichgewicht: 33 Prozent der Projekte zielten auf Vögel ab, die 18 Prozent aller Tierarten ausmachten, und gar 41 Prozent auf Säugetiere mit einem Anteil von nur acht Prozent.
Wirbellose, Reptilien, Amphibien und Fische seien erheblich unterrepräsentiert, erläutern die Autoren. Zudem gebe es ein geografisches Gefälle: Die meisten Projekte gingen auf Industrieländer zurück. Als erfolgreich werde eine Ansiedlung bewertet, wenn eine selbst erhaltende Population entsteht. Dies gelinge nur bei 23 Prozent – also weniger als jedem vierten Projekt.
Eine Ursache sei mitunter das Ziel, einen bestimmten historischen Stand wiederherstellen zu wollen. Der Lebensraum sei jedoch meist längst nicht mehr derselbe – etwa weil der Mensch die Landschaft veränderte oder andere Tiere den freien Platz im Ökosystem einnahmen. Ein weiterer Faktor sei der Klimawandel, der ohnehin für alle Schutzgebiete die Gefahr berge, zunehmend unpassende Lebensbedingungen zu bieten. Für die Tiere gebe es dann keine Möglichkeit, in angrenzende Regionen abzuwandern, da die Refugien oft letzte grüne Inseln in einer urbanisierten Umgebung seien.
Möglicherweise werde es künftig verstärkt klimabedingte Umsiedlungsprojekte geben. Hinzu komme ein weiteres neues Feld: das Wiederaufleben ausgestorbener Arten. Molekularbiologische Methoden machten es möglich, aus Erbgut neues Leben entstehen zu lassen, so die Wissenschaftler. „Eine Wiederkehr wird es an einem Punkt in der Zukunft für viele Arten geben, eine Frage muss aber noch diskutiert werden: welche?“