Die IT-Firma Blue Yonder will mithilfe von intelligenten Algorithmen vorhersagen, was Kunden morgen kaufen werden. Zu den Auftraggebern gehören Firmen wie Bauhaus, dm, Henkel, Sportcheck und Vodafone.
Wir leben in einer zunehmend durchkalkulierten Welt: Im Prinzip lässt sich alles – Konsumgüter, das Wetter, Feiertage, Menschen – als Nullen und Einsen darstellen, Bits und Bytes, die von Computern angeblich „intelligent“ analysiert werden. Ob das dem Fortschritt dient, wie die Befürworter sagen, oder uns auf Objekte reduziert, wie die Kritiker befürchten, oder ob beides sein kann, ist umstritten. Klar ist, dass sich mit den wachsenden Datenmengen, „Big Data“ genannt, viel Geld verdienen lässt. Ob dabei persönliche Daten genügend geschützt sind, ist fraglich.
Eine exemplarische Geschichte darüber lässt sich deshalb aus mindestens zwei Perspektiven erzählen: Aus Sicht eines Unternehmens und aus Sicht von Verbraucherschützern.
Das Unternehmen heißt Blue Yonder, es sitzt in Karlsruhe und Hamburg, es gehört zu 50 Prozent der Otto Group. Blue Yonder verspricht, per Datenanalyse die Zukunft vorherzusagen – zum Beispiel wie viele Stückzahlen von einem Produkt demnächst verkauft werden. Zu den Auftraggebern gehören Bauhaus, dm, Henkel, Sportcheck, Real und Vodafone – Firmen mit mehrstelligem Millionenumsatz, die noch mehr einnehmen könnten, wenn sie genauer wüssten, was in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren gefragt ist.
Nun sind Prognosen so alt wie die Menschheit; Datenverarbeitung mit Computern findet seit Jahrzehnten statt. Doch mit der Ausweitung des Internets und Speichern, die neuerdings auch in Kühlschränken, Zahnbürsten, und Armbanduhren Daten aufzeichnen, ist das Aufkommen an Bits und Bytes zuletzt extrem gestiegen. Allein in Deutschland, schätzt das IT-Unternehmen EMC in seiner jüngsten „Digital Universe“-Studie, wurden 2013 etwa 230 Milliarden Gigabyte an Daten produziert. Um diese zu speichern, bräuchte man 27 Milliarden zweilagige DVDs.
Wohl dem, der diese Datenberge gewinnbringend nutzen kann. Googles Chefökonom Hal Varian schrieb bereits 2009, dass es eine „enorm wichtige Fähigkeit“ sein werde, Daten deuten zu können. Der Begriff „Data Scientist“, Datenwissenschaftler, verbreitete sich.
Blue Yonder beschäftigt 70 Data Scientists. Einer davon ist Michael Milnik. Der 36-Jährige ist eigentlich Physiker, er schrieb seine Doktorarbeit über den Zerfall von speziellen Atomteilchen. Den Wechsel von der Wissenschaft in die Wirtschaft verdankt Milnik seinem Doktorvater Michael Feindt, der Blue Yonder 2008 gründete. Feindt, Professor für experimentelle Teilchenphysik an der Uni Karlsruhe, hatte die Idee während seiner Arbeit am Kernforschungszentrum CERN in Genf.
Wenn Teilchen in Beschleunigern aufeinanderprallen und zerfallen, wobei neue Teilchen entstehen, lassen sich diese Vorgänge nicht wie unter einem Mikroskop beobachten. Vielmehr entstehen Signale, die auf Teilchen hindeuten. Deshalb müssen Physiker die Existenz der Teilchen herleiten. Dazu untersuchen sie die Signale, die in Daten übersetzt werden, mit Software.
Die Grundlage dafür bilden Regeln oder Annahmen, etwa: Wenn zwei bestimmte Teilchen aufeinanderprallen, sollten sich bestimmte Signale zeigen. Diese Regeln beziehen die Forscher ein, wenn sie Algorithmen schreiben, Handlungsanweisungen, wie der Computer in riesigen Datenmengen nach Mustern suchen soll, etwa nach einer bestimmten Zerfallsreaktion. Anschließend läuft die Analyse automatisch.
Blue Yonder wirbt damit, dieses Prinzip auf die Wirtschaft übertragen zu haben. „Ich analysiere jetzt nicht mehr Teilchen, sondern zum Beispiel Produkte“, sagt Michael Milnik. Seine Kollegen und er programmieren etwa Algorithmen für Artikelabsatzprognosen. Einige Unternehmen haben viele Tausend Artikel im Sortiment. Was könnte künftig mehr oder weniger verkauft werden, und wovon hängt das ab? „Wollte man solche Prognosen manuell mit Computern ausrechnen, bräuchte man enorm viel Personal“, sagt Milnik. Also sollen die Maschinen den Großteil der Arbeit übernehmen.
Gesteuert von Algorithmen berücksichtigen die Computer viele Dutzend Faktoren. Das beginnt mit historischen Daten: Welche Stückzahlen wurden zuletzt von einem Artikel verkauft? Wie haben sich Wetter, Werbung und Öffnungszeiten der Filialen ausgewirkt? Es folgt der Blick in die Zukunft: Wie wird das Wetter – sonnig, also perfekt zum Grillen? Stehen neue Werbemaßnahmen an? Ist übermorgen ein Feiertag?
Die Software soll aus Erfahrung ständig dazulernen
All das läuft automatisch. Von den Servern des Kunden werden Daten zu Blue Yonder übermittelt. Dort rechnen Computer in wenigen Minuten Sortimente durch und schicken eine Prognosen zum Auftraggeber zurück.
Blue Yonder sagt, dass die Software ständig dazulerne: Hat sonniges Wetter tatsächlich dazu geführt, dass die Kunden wie erwartet mehr Grillfleisch gekauft haben? Das wäre ein Muster.
Zwar bleibe eine Unsicherheit, sagt Milnik. Aber deshalb erhalte der Auftraggeber Wahrscheinlichkeitsaussagen. „Wie wahrscheinlich ist es, dass er 100 Stück verkauft, 101 und so weiter.“
Aus Sicht von Blue Yonder-Gründer Michael Feindt sind solche Software-Prognosen oft genauer als die Erfahrung eines Einkäufers. „Wir haben inzwischen haufenweise Beispiele, wo wir besser sind als die menschliche Intuition“, zitiert ihn das Magazin „LookKIT“.
Überhaupt hätten die Software-Prognosen nur Vorteile: Wenn der Bedarf genauer bestimmt werde, müssten weniger Lebensmittel weggeworfen werden. Kein Mitarbeiter müsse mehr sinnlos seine Schicht antreten, weil der Personalbedarf an diesem Tag doch nicht so hoch sei. Maschinen ließen sich vorausschauend warten, Stillstände würden reduziert. „Mehr Gewinn und weniger Lagerhaltung“ seien die Folge.
Freimütig erläutert die Firma auf ihrer Webseite, was noch alles möglich sei. Beispiel Banken: Dort könne der „einzelne Kunde im Detail betrachtet“ werden. „Dazu analysiert die Software beispielsweise Daten aus seinem laufenden Konto. Darüber hinaus wird auch Text Mining genutzt, um herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt ein Kunde offen ist für neue Angebote und welche Zinsen er bereit ist zu zahlen.“ Text Mining heißt, dass etwa nach bestimmten Stichwörtern gesucht wird.
Was aber ist mit dem Datenschutz? „Wenn Absätze optimiert und dabei keine personenbezogenen Daten analysiert werden, ist das unbedenklich“, sagt Florian Glatzner, Referent für Digital-Themen beim Verbraucherzentrale Bundesverband. Im Fall einer Bank hingegen, die Kunden betrachten wolle, sei deren Einwilligung nötig. „Dann muss der Kunde genau informiert werden, wozu seine Daten genutzt werden.“ Es seien Zweifel angebracht, ob dies immer geschehe. Und viele Kunden hätten bisher nur ein abstraktes Bewusstsein für die Nutzung ihrer Daten. „Ihnen ist wohl nicht klar, welche Analysen damit möglich sind“, sagt Glatzner.
Nur zwei denkbare Szenarien: Zeigen die Kontobewegungen, dass sich jemand bei einer Partnervermittlung anmeldet, könnte dies ein Indiz für eine bevorstehende Scheidung sein; unterlässt jemand seine Unterhaltszahlungen, könnte dies auf finanzielle Schwierigkeiten hindeuten.
Auch wenn der Kunde zugestimmt habe, müssten solche „Scoring“-Verfahren eine wissenschaftliche Grundlage haben, sagt Prof. Johannes Caspar, der Hamburgische Beauftragte für Datenschutz. „Das überall nachzuhalten, ist jedoch schwierig“, sagt er, „da stoßen wir an die engen Grenzen unserer Kapazität.“ Caspar hat 20 Mitarbeiter, soll aber den Datenschutz bei mehreren Tausend Hamburger Unternehmen und der gesamten Hamburger Verwaltung im Blick behalten.
Blue Yonder teilt mit, man erhalte von den Auftraggebern nur anonymisierte Daten, die nicht einzelnen Menschen zugeordnet werden könnten. Die Auftraggeber könnten die zurückgeschickten Daten zwar zuordnen, sofern es sich um personenbezogene Daten handelt. Aber: „Jedes Unternehmen, mit dem wir zusammenarbeiten, ist bestrebt, sich an die gesetzlichen Vorgaben zu halten“, sagt Marketingchefin Dunja Riehemann.
Yvonne Hofstetter, Gründerin der Firma Teramark Technologies in München, die ebenfalls Algorithmen zur intelligenten Datenauswertung entwickelt, forderte kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“, dass Unternehmen, die Daten von ihren Kunden nutzen, den Kunden dafür Geld geben sollten. Wer Geld bezahlen müsse, überlege es sich zweimal, ob er Daten verwende.
Dunja Rieheman sagt, das halte sie für „nicht zielführend“, denn: „Der Kunde gibt seine Daten ja nur frei, wenn er davon profitiert, etwa durch einen Rabatt oder ein auf ihn zugeschnittes Angebot.“ Das sei ja ein Mehrwert.