Die Hamburger Neurowissenschaftlerin untersucht, nach welchen Prinzipien sich unser Denkorgan verändert
Hamburg. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, lautet ein Sprichwort, das zum Glück nicht stimmt – zumindest wenn man es so versteht, dass unsere geistige Entwicklung mit dem Erwachsenwerden abgeschlossen ist. Tatsächlich lernen auch Senioren noch Fremdsprachen, Skifahren oder den Umgang mit Smartphones, wenn auch langsamer als Kinder.
Zu verdanken ist dies einer erstaunlichen Fähigkeit des Gehirns, die Forscher als neuronale Plastizität bezeichnen: Bis ins hohe Alter kann sich unser Gehirnumbauen und so an neue Aufgaben anpassen. Zwar nimmt etwa die graue Substanz in unserem Denkorgan mit zunehmendem Alter ab, allerdings kann sie durch kognitives Training stellenweise wieder wachsen.
Ein Stück weit scheint das Sprichwort von Hänschen und Hans allerdings doch zu stimmen. Wie sich in jüngeren neurowissenschaftlichen Experimenten angedeutet hat, erlernen Menschen einige Fähigkeiten im Alter tatsächlich nicht mehr, wenn ihnen bestimmte frühkindliche Erfahrungen fehlen.
Wann genau solche kritischen Phasen stattfinden, was sich dabei im Gehirn verändert und welche Folgen dies für die Lernfähigkeit unseres Denkorgans haben kann, will die Hamburger Psychologin und Neurowissenschaftlerin Brigitte Röder ergründen. „Vielleicht lässt sich an diesen Mechanismen rütteln“, sagt die 46 Jahre alte Professorin. Sie hofft, dass ein tieferes Verständnis von der Prägung des Gehirns im Kindesalter dabei helfen könnte, die neuronale Plastizität in jedem Lebensabschnitt besser zu fördern.
Weil Röder mit dieser Arbeit nach Ansicht der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Weltspitze gehört, erhält sie heute in Berlin neben zehn weiteren Wissenschaftlern die wichtigste Auszeichnung für deutsche Forscher: den mit jeweils 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis. Röders Werk sei „für die Entwicklung von Bildungs- und Rehabilitationsprogrammen von hoher Bedeutung“, so die DFG.
Brigitte Röder leitet den Arbeitsbereich Biologische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Hamburg. Die Forscherin, eine zierliche Person mit kräftigem Händedruck, elegant ganz in Schwarz gekleidet, empfängt in einem akkurat aufgeräumten Büro im zweiten Stock mit Blick auf den Uni-Campus. Zwei Bücherregale, Zimmerpflanzen, kein Schnickschnack.
Hier verbringt die 46-Jährige inzwischen mehr Zeit als in Laboren, koordiniert eine fast 40-köpfige Forschergruppe. Röder spricht immer von „wir“, wenn es um Forschung geht, sie sieht den Leibniz-Preis als Verdienst ihres ganzen Teams.
Neben ihrem Schreibtisch steht ein symbolischer Scheck über 1000 Euro; es ist ein kleiner Betrag verglichen mit den Geldern, die sie schon für viele Auszeichnungen als Forscherin bekommen hat, trotzdem ist sie besonders stolz darauf, denn es ist ihr erster Lehrpreis. Sie bekam ihn 2011 mit Kollegen, weil sie für das Masterstudium in Psychologie Seminare konzipiert hatte, die sich mit der entwicklungsorientierten kognitiven Neurowissenschaft beschäftigen.
An der Wand hängt eine Zeichnung, die ein Gehirn in einer Art Glocke zeigt, darüber ein Doktorhut. Sie diente als Logo einer Absolventenfeier an der Universität und sollte symbolisieren, dass Röder an der Hochschule die Hirnforschung in die Psychologie eingebracht hat – in eine Disziplin, in der sich Forscher lange auf das Verhalten und Erleben konzentrierten. Erst in der jüngeren Zeit und insbesondere infolge des Booms der Hirnforschung, die in Europa und in den USA mit Milliardengeldern unterstützt wird, sind zunehmend auch die neurologischen Grundlagen in den Vordergrund getreten.
Röder arbeitet an den Schnittstellen von Psychologie und Neurowissenschaft; sie ist fasziniert davon, dass aus dem biologischen Substrat – Milliarden von Nervenzellen – und dem Wechselspiel chemischer Botenstoffe ein Verhalten und Erleben entsteht.
Wie dies bei Kindern und Erwachsenen geschieht, erforscht Röders Team unter anderem in drei mit Schaumstoffplatten akustisch abgedämmten Laboren, die sich außerdem verdunkeln lassen. Mit Elektrodenhauben auf dem Kopf bekamen hier schon mehrere Hundert Versuchspersonen – Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene – Abbildungen und Filme, Töne und Sprache präsentiert, während die Elektroden die elektrische Aktivität des Gehirns maßen. Gezielt untersuchen die Forscher um Röder auch von Geburt an taube Probanden, blinde und solche, die mit Grauem Star (Katarakt) blind auf die Welt kamen, später nach einer OP aber wieder sehen konnten. Der Vergleich von Menschen mit und ohne Einschränkung soll zeigen, welche Veränderungen im Gehirn auf Anpassungen zurückzuführen sind und nicht auf Veranlagung.
Einen Schwerpunkt bildet die Frage, wie es dem Gehirn gelingt, Signale von verschiedenen Sinnessystemen in Beziehung zu setzen. So verstehen wir einen Sprecher besser, wenn wir ihn hören und sehen. Diese sogenannte multisensorische Integration bekommen erwachsene Probanden, die erst nach einer Katarakt-OP im Alter von sechs Monaten bis zwei Jahren sehen konnten, nicht hin, wie Röders Team zeigte.
Weil eine angeborene Katarakt in Deutschland in der Regel so früh operiert wird, können die Forscher hier nur selten den Zustand vor der OP untersuchen. In Indien hingegen werden viele Betroffene erst als Jugendliche oder Erwachsene operiert. Einen Großteil des Leibniz-Preisgeldes will Brigitte Röder nun dafür verwenden, mit dem LV Prasad Eye Institute im indischen Hyderabad in einer Langzeitstudie den Vorher- und den Nachher-Zustand bei Probanden zu betrachten, um besser zu verstehen, wie sich das Gehirn an verschiedene Bedingungen anpasst – und ob sich die neuronale Plastizität auch nach den kritischen Phasen in der frühen Kindheit mit Training fördern lässt.
Sechs Jahre mindestens soll das Projekt dauern – wohl kein Problem für Brigitte Röder, die schon etliche Marathons lief und auch auf ihrem Crossrad viele Kilometer macht. „Es geht ja nicht um ein sehr spezielles Problem, sondern um eine generelle Idee“, sagt sie. „Da muss man sich schon etwas gedulden können.“