Scheinbar sensationelle Nachrichten aus der Medizin können bei Patienten unnötige Hoffnungen wecken. Oft wäre Zurückhaltung angebracht, sagen Experten.
Von der Nasa sind Journalisten vermeintlich spektakuläre Nachrichten gewöhnt. So könne man bei der US-Raumfahrtbehörde „seit jeher darauf wetten, dass, wenn mal wieder vermeintliche Spuren von Leben in den Tiefen des Alls entdeckt wurden, gerade Etat-Verhandlungen anstehen“, wofür etwas Publicity nützlich sei, schreibt Martin Schneider, Vorstandsvorsitzender der WPK, einem Verband von Wissenschaftsjournalisten. Ein relativ neuer Trend sei jedoch, dass auch kleinere Forschungseinrichtungen auf zugespitzte Meldungen setzten, um es in die Schlagzeilen zu schaffen.
In diese Kategorie fällt wohl auch eine Nachricht, mit der das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) an die Presse ging. „UKE-Wissenschaftler entdecken neue Wirkstoffe zur Therapie der Alzheimer-Krankheit“, hieß es bis Mittwochnachmittag in der Überschrift einer aktuellen Mitteilung. Und, in kleinerer Schrift darüber: „Sechs Substanzen identifiziert, die Krankheitsverlauf stoppen könnten.“
Die Überschrift kann man so verstehen, als seien Medikamente gegen die bislang unheilbare Krankheit in greifbarer Nähe – dabei ist bisher nicht einmal zweifelsfrei geklärt, wie Alzheimer entsteht. Und mit Medikamenten lassen sich bisher nur die Symptome (Störungen der Hirnfunktion) zeitweise lindern; das Absterben der Nervenzellen ist nicht aufzuhalten.
Übertreibungen wie in der UKE-Pressemitteilung seien ein Beispiel für den Kampf um Aufmerksamkeit im Wissenschaftsbetrieb, sagt Marcus Anhäuser vom Projekt Medien-Doktor an der Technischen Universität Dortmund, in dem die Qualität von medizin- und umweltjournalistischen Beiträgen in den Medien bewertet und seit Kurzem auch Darstellungen in Pressemitteilungen untersucht werden. „Pressemitteilungen gehen längst nicht mehr nur an Journalisten, sondern sie werden auch im Internet veröffentlicht. Dort werden sie von Menschen gelesen, die womöglich nicht die Kompetenz haben, die Nachricht richtig einzuordnen“, sagt Anhäuser. Das Problem dabei: „Ähnlich wie bei journalistischen Texten, die stark zugespitzt sind, besteht auch hier die Gefahr, dass bei Patienten unnötige Hoffnungen geweckt werden, die sich nicht erfüllen lassen.“
Liest man auch das „Kleingedruckte“, entpuppen sich sensationell daherkommende PR-Texte oft als sehr differenziert – das gilt auch für die Alzheimer-Mitteilung des UKE. Dort wird erläutert, dass es genetische Risikofaktoren gibt, die wohl Alzheimer begünstigen. Dazu gehört eine vermehrte Produktion des Proteins APP, aus dem unter Umständen jene fehlgefalteten Amyloid-Beta-Proteine entstehen, die sich als Plaques im Gehirn anlagern. Viele Forscher nehmen an, dass Amyloid-Beta-Proteine Alzheimer auslösen; geklärt ist dies bisher nicht.
Die UKE-Forscher um Markus Glatzel vom Institut für Neuropathologie hatten Nierentumorzellen (HEK-Zellen) im Labor genetisch so verändert, dass in ihnen vermehrt das Amyloid-Vorläuferprotein produziert wurde. HEK-Zellen werden in der medizinischen Forschung eingesetzt, weil sie sich leicht kultivieren lassen. An solchen Zellen testeten Glatzel und seine Kollegen 10.000 pharmakologisch einsetzbare Substanzen. Bei sechs Stoffen habe sich gezeigt, dass sie die Menge des Vorläufer-Proteins verringerten und so auch weniger Amyloid-Beta-Proteine entstanden, sagt Glatzel.
In weiteren Laborstudien wollen die Forscher untersuchen, ob sich die Substanzen so modifizieren lassen, dass sich ihre Wirkung verbessert; anschließend könnten sie in Tierversuchen erprobt werden. Würden sie dort ähnlich gut wirken, würden sich klinische Studien anschließen. Alles in allem könnten bis zur Entwicklung neuer Medikamente viele Jahre vergehen.
Markus Glatzel hält die im Online-Journal „PLOS ONE“ veröffentlichten Ergebnisse für „vielversprechend“. Andere vom Abendblatt befragte Alzheimer-Forscher wollten die Ergebnisse der Studie nicht beurteilen, mit der Begründung, dass sie die mit einer Sperrfrist versehene Arbeit nicht lesen konnten. Glatzels Vorgehensweise, ein vereinfachtes System (Zellversuch) zu wählen, sei bei solchen „Filterverfahren“ normal. Ob Ergebnisse aus Zellversuchen auf den Menschen übertragbar seien, lasse sich schwer vorhersagen.
Zur Überschrift der UKE-Pressemitteilung (neue Wirkstoffe zur Therapie der Alzheimer-Krankheit) hieß es: Ja, sie könnte falsche Hoffnungen wecken. Dies komme in der Wissenschaftskommunikation inzwischen oft vor. Als Folge der Profilierung etwa im Kampf um Fördergelder gebe es eine „Inflation der Übertreibung“. Ihre Namen wollten die Forscher in diesem Zusammenhang nicht gedruckt sehen.
In Schutz genommen wird Markus Glatzel vom Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie, Werner Paulus. Er sagt: „Markus Glatzel ist ein zurückhaltender, korrekter Mensch, den es nicht in die Öffentlichkeit drängt.“ Grundsätzlich gebe es aber durchaus das Problem, dass einige PR-Texte falsche Hoffnungen weckten. So etwas sei keinesfalls seine Absicht gewesen, sagt Markus Glatzel.
Das UKE teilte am Mittwochnachmittag mit, der Titel der Mitteilung sei geändert worden, er laute nun: „UKE-Wissenschaftler entdecken neues Konzept zur möglichen Therapie der Alzheimer-Krankheit“. Nach wie vor werde im zweiten Satz darauf verwiesen, dass es Gegenstand weiterer Forschungen sei, ob sich aus den sechs Substanzen tatsächlich neue Medikamente entwickeln ließen. „Wir legen höchsten Wert auf eine glaubwürdige Pressearbeit“, so UKE-Sprecherin Christine Trowitzsch. „Die Titelzeile ohne Dachzeile und Text transportiert den Inhalt nicht zutreffend. Wir haben sie noch vor Ablauf der Sperrfrist zur Veröffentlichung korrigiert, nachdem wir den ersten Hinweis darauf erhalten haben.“
Marcus Anhäuser vom Projekt Medien-Doktor appelliert an „jedes Glied in der Kette“, Forscher, Öffentlichkeitsarbeiter und Journalisten, auf Übertreibungen zu verzichten – zugunsten der eigenen Glaubwürdigkeit.