1,9 Prozent der deutschen Forste dürfen natürlich vergehen, ohne das Holz geerntet wird. Davon profitieren unscheinbare Waldbewohner wie Pilz, Flechten und Käfer
Göttingen Im Herbst lädt das Farbenspiel des Laubes zum Spaziergang ein. „Die Wälder als Erholungs- und Freizeitort sind auch beliebt, weil sie durch die deutschen Forstleute und Waldbesitzer seit Jahrhunderten nachhaltig bewirtschaftet und gepflegt werden“, betont der Deutsche Forstwirtschaftsrat, Stimme der Holznutzer. Was den Menschen gefällt, ist für einige typische Bewohner eines Naturwaldes, in dem Äxte und Sägen schweigen, eher unattraktiv: Flechten, Pilze und manche Käfer wollen Wildnis. Sie lieben verrottendes Holz von abgestorbenen Bäumen, denn sie ernähren sich von ihm. Als Beitrag zum Erhalt der biologischen Vielfalt werden deshalb Waldflächen gezielt ungenutzt belassen.
Auf mindestens 1,9 Prozent der deutschen Waldfläche wird derzeit kein Holz geerntet. Das ergab eine Bestandsaufnahme, die von Forschern der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt (NW-FVA) in Göttingen koordiniert wurde. Seit Dezember 2010 trugen die Forscher, unterstützt von Kollegen in Freiburg und Bühl, Walddaten aus allen Bundesländern zusammen, um nutzungsfreie Standorte und deren ökologischen Wert zu ermitteln. Das Projekt dient der 2007 beschlossenen Nationalen Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt. Sie enthält das Ziel, bis 2020 fünf Prozent der deutschen Waldfläche aus der Nutzung zu nehmen.
Die „Alters- und Zerfallsphase“ sei in deutschen Wäldern unterrepräsentiert, sagt Projektleiter Prof. Hermann Spellmann. „Erst seit jüngerer Zeit werden sogenannte Habitatbäume geschützt, also große, alte oder besonders geformte Bäume, die einen wertvollen Lebensraum (Habitat, die Red.) darstellen. Sie haben vielleicht auch eine besonders große Höhle im Stamm oder ein Schwarzstorch-Nest in der Krone. Doch wenn ein solcher Baum mit fortschreitender Waldnutzung allein übrig bleibt, abstirbt und zersetzt wird, verschwindet dieser Lebensraum. Deshalb sollten statt Einzelbäumen besser Habitatbaumgruppen geschützt werden, die zunächst länger leben und dann allmählich absterben, so dass Flechten, Moosen oder Totholzzersetzern dieser Lebensraum langfristiger zur Verfügung steht.“
Schon nutzungsfreie Flächen ab 0,3 Hektar könnten diese Funktion erfüllen und den Holzzersetzern als Trittsteine dienen, betont Spellmann. Er sieht das Bemühen um Wälder, in denen die Sägen ruhen, Jäger und Spaziergänger aber willkommen sind, auf einem guten Weg. Dabei geht es ihm weniger um den absoluten Flächenumfang. Spellmann: „Wir haben bei der Bilanzierung der Flächen mit natürlicher Entwicklung sehr strenge Kriterien angelegt. Dazu gehört, dass der Nutzungsverzicht auf Dauer ausgelegt und rechtlich oder vertraglich abgesichert ist.“
Dadurch sind zum Beispiel unbewirtschaftete Steillagen nicht in die Bilanz eingeflossen. Dasselbe gilt auch für manche Flächen in kleinen Privatwäldern, deren Eigentümer nicht mehr auf dem Land leben. Spellmann: „Sie sind stolz auf ihren Waldbesitz, haben aber kein Interesse an dessen Bewirtschaftung. In diesen Wäldern ist oft noch nie eine Axt geschwungen worden.“ Würden allein die nutzungsfreien sumpfigen Wälder und Steilhänge mit bilanziert, so wäre das Fünf-Prozent-Ziel der Bundesregierung bereits erreicht, so Spellmann.
Derzeit weist die Bilanz 213.000 Hektar nutzungsfreien Wald auf, 2020 werden es voraussichtlich 257.000 Hektar sein. Danach wird der Anteil aufgrund rechtlicher Verpflichtungen des Bundes auf 331.000 Hektar, also drei Prozent der gesamten Waldfläche anwachsen. Dem Forstmann ist die ökologische Qualität der nutzungsfreien Wälder wichtig. Viele von ihnen befinden sich heute in Großschutzgebieten, sind etwa Kernbereiche von Nationalparks. Große Schutzgebiete, die man nur im Staatswald finde, seien aber nicht immer naturnah, gibt Spellmann zu bedenken: „Je größer das Schutzgebiet, umso geringer die Naturnähe, weil mit der Flächengröße viele Bestände im Beifang sind, die nicht zur naturnahen Waldgesellschaft zählen. So ist gerade Baden-Württemberg dabei, im Nordschwarzwald seinen ersten Nationalpark auszuweisen, in dem bei weitem Fichtenwälder überwiegen. Auch der Nationalpark Harz besteht zu 90 Prozent aus Fichten.“
Für das Fünf-Prozent-Ziel gelte es jetzt, bestehende regionale, standörtliche oder vegetationskundliche Lücken zu schließen, etwa seltene Buchenwälder wie Buchenbuschwald auf Ostseedünen oder Kiefernflechtenwälder aus der Nutzung zu nehmen. Eine Ausnahme bilden die lichten Eichenwälder, die von der menschlichen Pflege abhängen, weil sonst konkurrenzstärkere Arten wie die Buche sehr schnell die Oberhand gewinnen würden. Dieser Waldtyp kann also nur überleben, wenn er genutzt wird.
Die Auswertung der Forscher zeigt ein deutliches Nord-Süd-Gefälle, wobei die Anteile der ungenutzten Bereiche in den Wäldern im Norden deutlich höher liegen. Das ist vor allem den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin zu verdanken. Dort sind nach der Wende die ehemaligen Truppenübungsplätze dem Naturschutz zugeschlagen worden. Auf den zunächst baumlosen Flächen hat eine natürliche Waldbildung eingesetzt: Zunächst haben sich Pionierbaumarten wie Birke, Erle oder Kiefer angesiedelt, denen dann vor allem Buchen folgen. Dagegen sind nutzungsfreie Wälder im nordwestdeutschen Tiefland unterrepräsentiert. Hier gibt es keine großen Flächen in Bundesbesitz, die der Natur zurückgegeben werden können – über niedersächsischen Truppenübungsplätze rollen nach wie vor Panzer, etwa bei Munster in der Lüneburger Heide.
Die Bestandsaufnahme hat auch ergeben, dass der Ertragsausfall durch die Nichtnutzung der Wälder durchschnittlich 18.227 Euro pro Hektar beträgt. Angesichts der für das Jahr 2013 bilanzierten 213.145 Hektar an ungenutztem Wald summiert sich der Verlust auf stolze 3,88 Milliarden Euro. Die Zahl klingt gigantisch, doch relativiert sie sich im Vergleich zum Holzwert (Fachleute sprechen vom Walderwartungswert) des gesamten deutschen Waldes, der gut elf Millionen Hektar einnimmt. Bei vorsichtig geschätzten zehn Millionen Hektar tatsächlich genutzter/nutzbarer Waldfläche ergibt sich ein Wert von 180 Milliarden Euro.
Dennoch haben gerade die stark zugenommene Holznachfrage und der gestiegene Preis den Nutzungsdruck auf die Wälder verstärkt. Das macht es Verfechtern von Nullnutzungszonen nicht einfacher. Hermann Spellmann betont, dass der Naturschutz mit anderen Interessen abzuwägen sei: „Die Lasten durch den Ertragsausfall sind am ehesten dem Bund und den Ländern zuzumuten. Doch gerade die Landeswälder sind wichtige Holzlieferanten für die Industrie. Zudem wollen wir die erneuerbaren Energien weiter voranbringen. Sie haben derzeit einen Anteil von zwölf Prozent am bundesdeutschen Primärenergiebedarf. 60 Prozent davon stammen aus der Biomasse, mehr als die Hälfte davon ist Holz.“
Das Öko-Label FSC, das mehr Naturnähe verspricht und das auch die Hamburger Forste tragen, schreibt zwar für Staats- und größere Kommunalwälder Referenzflächen vor, die ungenutzt bleiben müssen, um die natürliche Waldentwicklung beobachten zu können. Diese Flächen sind aber nicht in der Bilanzierung berücksichtigt worden. Denn sie sind nur zehn Jahre gesichert und verfehlen damit das Aufnahmekriterium der Langfristigkeit.
Die Hamburger machten „eine gute Forstwirtschaft, so wie andere auch“, urteilt der Experte. Den Spaziergängern wird das genügen, wenn sie in diesen Tagen das Farbenspiel des Laubs und den frisch-modrigen Geruch des Waldbodens genießen.