Im Hochsommer bekommt der Nachtfalter Verstärkung: Dann rückt die Verwandtschaft aus dem Mittelmeerraum an. Die wärmeliebende Art überwintert als Raupe in Schleswig-Holstein.
Hamburg Sonne, Wärme und ein reichliches Blütenangebot – das sind Bedingungen, die Schmetterlinge mögen. In die bunte Faltervielfalt mischt sich immer öfter eine „graue Maus“: die Gammaeule, ein häufig vorkommender Nachtfalter, der auch am Tag aktiv ist. Die heimischen Vertreter der Art erhalten im Hochsommer Verstärkung aus dem Süden und sind jetzt in Hamburg reichlich vertreten. Denn Gammaeulen sind Wanderfalter und ziehen von der Mittelmeerregion über die Alpen bis in hiesige Breiten.
Wer an den Balkonblumen, im Garten oder auf dem Spaziergang einen kleinen, graubraunen Falter entdeckt, der im Schwirrflug Blüten besucht, hat wahrscheinlich die Gammaeule vor Augen. Den auffälligen Kunstflug, der dem der Kolibris ähnelt, hat der Falter mit dem etwas größeren Taubenschwänzchen (ebenfalls ein Schmetterling) gemein. Die Gammaeule ist für Laien daran zu erkennen, dass sie sich – anders als Taubenschwänzchen – beim Nektarsaugen kurz mit den Füßen an der Blüte festhält. Experten achten auf das Gamma. Gemeint ist eine prägnante Färbung an beiden Flügeln, die an den griechischen Buchstabe Gamma erinnert und der Art ihren Namen gibt. Das geschwungene beigefarbene Ypsilon ist weiß und leuchtet goldfarben – eine attraktive Verzierung des ansonsten unscheinbaren Schmetterlings.
Die Zahl der bis zu vier Zentimeter großen Falter (Flügelspannweite) schwankt von Sommer zu Sommer. „Wir haben zwar keine Beobachtungsdaten, aber mein Eindruck ist, dass in diesem Jahr wieder besonders viele Gammaeulen fliegen“, sagt Julian Heiermann vom Naturschutzbund Deutschland in Berlin. So empfinden es auch Hamburger Naturfreunde, die die Falter sogar mitten in Eimsbüttel auffällig häufig herum schwirren sehen. Die schöne Witterung beflügelt das Vorkommen. Zum einen können sich die hier heimischen Tiere bei Wärme besser vermehren. Zum anderen findet die mediterrane Verwandtschaft schneller den Weg nach Norden. Heiermann: „Die Falter wandern im Bestreben sich auszubreiten, ihr Areal zu erweitern. In manchen Jahren werden sie durch schlechtes Wetter aufgehalten. In den vergangenen Wochen werden sie dagegen gut vorangekommen sein.“
Das bestätigt Birgitt Piepgras von der Lepidopterologischen Arbeitsgruppe Südwestliches Schleswig-Holstein (Lepidopterologie=Schmetterlingsforschung): „Es sind bereits die Einwanderer aus dem Süden dazugekommen. Meist treffen sie ein bisschen später ein.“ Erst seit einigen Jahren, vielleicht einem Jahrzehnt sei die wärmeliebende Art nicht nur auf Nachschub aus dem Süden angewiesen, sondern könne auch in Schleswig-Holstein überwintern, sagt Piepgras. Dies geschieht im Raupenstadium.
Die Weibchen von Autographa gamma, so der lateinische Name, legen ihre Eier gern an lückenhaft stehenden Pflanzen ab, die von offenen Bodenflächen umgeben sind. In dieses Muster fallen auch Erbsen-, Salat-, Spinat- und Kohlkulturen. Aus den Eiern schlüpfen zierliche, hellgrüne Raupen. Sie fressen bis sie eine Größe von maximal vier Zentimeter erreichen und machen sich dabei bei Landwirten und Gärtnern unbeliebt. Allerdings seien die Raupen keine übermäßig auftretenden Schädlinge, die mit Gift bekämpft werden müssten, betont Piepgras.
Anders als die anderen Vertreter der mehr als 1000 in Deutschland beheimateten Nachtfalterarten ist die Gammaeule auch am Tag aktiv, dazu in der Dämmerung und in der ersten Nachthälfte. In der Dunkelheit orientiert sie sich wie die anderen geflügelten Nachtschwärmer am Mondlicht – und wird dadurch irrtümlich von Kunstlicht angezogen. Gammaeulen sind Teil der nächtlichen Insektenschar, die Lampen umschwärmen. Oder von der Zimmerbeleuchtung angezogen werden. Dann tanzen sie außen an der Fensterscheibe, oder irren, wenn es ganz schief läuft, in der Wohnung umher.
Die Navigation nach dem Mond bietet von Natur aus eine sichere Orientierung. Wenn das Kunstlicht nicht wäre. Piepgras: „Die Falter bestimmen im Flug ihren Winkel zum Mond und achten darauf, dass dieser immer konstant bleibt. Auf diese Weise erreichen sie eine gerade Flugstrecke. Kunstlicht mit hohem UV-Anteil ist dem Mondlicht sehr ähnlich. Wenn ein Falter es versehentlich zur Orientierung nutzt, ändert sich der Winkel zur Lichtquelle dauernd, weil diese ihm sehr nahe ist. Beim Versuch dies zu korrigieren fliegt der Falter spiralförmig immer näher zur Lampe hin.
Millionen Insekten verenden auf diese Weise im Kunstlicht. Das ist ökologisch auch deshalb problematisch, weil Nachtfalter wie ihre tagaktiven Kollegen Blüten bestäuben und zudem eine Nahrungsgrundlage für Vögel und Fledermäuse bilden. Die Falter stünden im wahrsten Sinne im Schatten der attraktiveren Tagfalter, bedauert Birgitt Piepgras. „Immer weniger Leute kümmern sich um Nachtfalter. Professionelle Biologen werden kaum mehr beauftragt, die Bestände zu erfassen. Und Ehrenamtliche, die meist einem Beruf nachgehen, können das kaum leisten, denn sie müssen dazu nachts unterwegs sein. Wir laufen Gefahr, das Wissen über die Nachtfalter allmählich zu verlieren.“
Autographa gamma werden Laien wie Profis weiter im Auge behalten. Zum einen sie einer der häufigsten Nachtfalter in Deutschland, zum anderen lässt sie sich gern in Städten sehen. Sei es zur Nahrungssuche am Balkonkästen oder irrtümlich im hell erleuchteten Wohnzimmer.