Anhand von Dinosaurierfossilien und Pflanzenresten wollen Forscher die Landschaft der Jurazeit rekonstruieren. Ziel ist eine Austellung.

Goslar. Graubraunes Geröll säumt den Weg, der in Schlangenlinien 60 Meter hinab in den Steinbruch führt. Fußtiefe Pfützen, trüb von Staub, erinnern an die Regenfälle der vergangenen Tage. Ein weißer Lkw, daneben: ein Lager mit drei Klappstühlen, Müsliriegeln, Wasserflaschen, Handschuhen und Helmen, davor: sechs Studenten, die mit Meißelhämmern den Boden bearbeiten. So sieht also das Paradies für Dinosaurierforscher aus. "Das hat etwas von Sträflingsarbeit", sagt Oliver Wings. Er grinst. "Aber das Spannende ist, dass wir jederzeit eine Entdeckung machen können." Der 39-Jährige war zuletzt Kurator am Museum für Naturkunde in Berlin, und dort wohnt er auch noch mit seiner Familie. Forschen wird Wings in den nächsten vier Jahren aber vor allem hier am Langenberg bei Goslar, am nördlichen Rand des Harzes.

Und dafür gibt es gute Gründe: Denn wo heute bewaldete Hügel, Chemiefabriken und Arbeitersiedlungen das Bild prägen, erstreckte sich vor 154 Millionen Jahren, zur Zeit des oberen Jura, ein flaches Meer, kaum tiefer als 30 Meter, aus dem sich Inseln erhoben. Nicht nur diese Gegend, ganz Norddeutschland, damals noch Teil des Kontinents Laurasia, befand sich weiter südlich; die Sonne sorgte für tropische Temperaturen. In dieser feuchtwarmen Welt lebten vermutlich Tausende Dinosaurier, unter ihnen eine außergewöhnliche Art, die wahrscheinlich nur hier vorkam: der Europasaurus. Außergewöhnlich insofern, weil er zwar zur Gruppe der riesigen pflanzenfressenden Langhalssaurier (Sauropoden) zählte, jedoch viel kleiner war – aus noch ungeklärten Gründen.

Durch Bewegungen der Erdkruste hat sich das Gestein aufgefaltet

Im Steinbruch ist die Geschichte jener Zeit konserviert. Schicht um Schicht haben sich an diesem Ort Sedimente aus verschiedenen Zeiten abgelagert, die sich später durch Bewegungen der Erdplatten auffalteten, sodass die einzelnen Schichten heute steil gestellt sind, wie es in der Fachsprache heißt. Ihre oberen Ränder sind im Steinbruch durch Absprengungen von Gestein freigelegt worden. Oliver Wings zeigt auf eine etwa zehn Meter hohe Steinwand: An ihr zeichnen sich die Jahrmillionen alten Schichten vertikal ab wie die Seiten eines stehenden Buches. Am Fuß der Wand prangt auf einer Gesteinslage ein rotes D für "Dinobank". Von dort ist eine gelbe Schnur 50 Meter über den Grund des Steinbruchs gespannt: Sie markiert, wo die bis zu einem Meter breite Schicht im Boden des Steinbruchs weiterverläuft. An dieser Linie entlang graben sich der Paläontologe und sein Team in die Erde, um den Abschnitt wie eine Wulst freizulegen.

Anhand ihrer Entdeckungen wollen sie die Rätsel lösen, die bisherige Funde von Dinofossilien am Langenberg aufgeworfen haben; sie wollen die Lebenswelt der Urzeitechsen rekonstruieren und so das Jurazeitalter in Norddeutschland gewissermaßen wieder auferstehen lassen – zumindest in einer Ausstellung. Die Volkswagenstiftung fördert dass Projekt im Zuge ihrer Initiative "Forschung in Museen" mit fast 600 000 Euro; an den Arbeiten beteiligt sind Wissenschaftler vom Landesmuseum Hannover, vom Steinmann-Institut für Paläontologie der Universität Bonn, vom Dinosaurier-Park Münchehagen und vom Naturhistorischen Museum Braunschweig. Oliver Wings leitet das Projekt.

Während die Studenten den Generator für die Wasserpumpe anwerfen, erzählt der Forscher von seiner letzten Grabung, für die es ihn vor einigen Monaten nach China verschlug. Paläontologen aus Xingjiang, einer von Wüsten bedeckten Provinz im äußersten Westen des Landes hatten ihn eingeladen, mit ihnen das Skelett eines Mamenchisaurus zu bergen. Das war einer dieser Sauropoden, aber ein großer: "Bis zu 35 Meter lang konnte ein Mamenchisaurus werden", sagt Wings. "Wir entdeckten die komplette Wirbelsäule, ein ganzes Hinterbein und Halsrippen – so viele Überreste eines Dinos zu finden, ist selten. Ähnlich spektakuläre Funde erhoffen wir uns hier nun auch."

Dass Norddeutschland zu einem bedeutenden Dino-Fundort werden würde, war lange nicht abzusehen. Zwar hatte bereits 1921 der Geologe Walter Klüpfel in Barkhausen bei Osnabrück Spuren von riesigen Pflanzenfressern entdeckt; weitere Fußabdrücke deuteten zudem darauf hin, dass in dieser Gegend während der Jurazeit auch zehn Meter lange Räuber lebten. Fährten von Pflanzenfressern fanden sich später auch in Münchehagen nahe Hannover. In Obernkirchen bei Minden wurden Spuren von Sichelklauen-Dinosauriern entdeckt, die dem Velociraptor ähnelten, jenem Räuber, der im Film "Jurassic Park" Angst und Schrecken verbreitet. Funde von Dino-Fossilien jedoch waren in Norddeutschland selten – bis der Hobbysammler Holger Lüdtke 1998 im Langenberg-Steinbruch in abgesprengtem Kalkstein einen zwei Zentimeter langen, versteinerten Zahnstumpf entdeckte.

Das war der Auftakt zu einer breit angelegten Suche im Steinbruch, die bis heute andauert. Aus mehr als 100 Tonnen Gestein bargen Experten des Dinosaurier-Parks Münchehagen die Überreste von mindestens 20 Europasauriern. Mehr als 1200 Knochen hat das Team um den Präparator Nils Knötschke bisher bearbeitet; parallel machten sich Forscher daran, die Überreste genauer zu untersuchen.

Bei den ersten Knochenfunden nahmen die Wissenschaftler noch an, dass es sich um Jungtiere von Sauropoden handelt, weil die Rekonstruktion ergab, dass die Echsen höchstens sechs Meter lang waren und nur mehrere Hundert Kilogramm wogen, also erheblich weniger als viele Tonnen schwere und ungleich größere erwachsene Sauropoden. Doch Analysen der Knochen, bei denen sich anhand von Wachstumslinien wie bei den Jahresringen von Bäumen die Entwicklung ablesen lässt, ergaben, dass es sich um ausgewachsene Tiere handelt – Sauropoden also, die verzwergt waren. Dieser Befund ließ sich untermauern, weil die anderen Überreste von Jungtieren und halberwachsenen Europasauriern stammen.

Der Europasaurus, der seinem Entdecker zu Ehren den Artnamen "holgeri" erhielt, war also wohl einzigartig; das war eine Sensation, die zugleich viele Fragen aufwarf: Warum nur waren diese Sauropoden so klein? Vielleicht ist die Erklärung einfach: Auf den Inseln gab es weniger Nahrung als an Land, daran mussten sich die Tiere anpassen. Schwerer erklären lässt sich der Fundort: Alle Europasaurier und auch die bisher mit ihnen zusammen entdeckten Überreste von Krokodilen und Schildkröten sowie von einem Flugsaurier und einem Stegosaurus (der mit den spitzen Platten auf Hals und Rücken) waren allesamt in einer Schicht konserviert, die aus Meeresablagerungen entstand – in der "Dinobank". Andernorts hatte man zwar schon einzelne Tiere in Meeresablagerungen gefunden; vermutlich wurden ihre Kadaver einst am Strand weggeschwemmt. Aber hier am Langenberg ist es anders, es sind viele, dazu noch verschieden alte Tiere konserviert worden. Wie kamen sie bloß in die Meeresablagerungen hinein? "Vielleicht gab es Wanderungen über Landbrücken, die Inseln verbanden, und die Tiere sind stecken geblieben und von der Flut überrascht worden", sagt Oliver Wings. "Die Wahrheit ist aber: Wir kennen die Ursache nicht."

Wie überhaupt nur ein Bruchteil der damaligen Welt bekannt ist. Mit jedem neuen Fund wollen Wings und sein Team sich nun ein genaueres Bild davon machen, wie Europasaurus und die anderen Echsen lebten und wie es einst an diesem Ort ausgesehen haben könnte. Immer geht es dabei um Indizien. Woher sie zu wissen glauben, dass sich hier vor 154 Millionen Jahren ein Meer erstreckte? Weil Meeressedimente und Überreste von kalkschaligen Organismen wie Muscheln und Schnecken darauf hindeuten. Warum das Meer maximal 30 Meter tief war? Das lassen Erkenntnisse zur sogenannten Sturmwellenbasis vermuten: Die Überreste der Muscheln und Schnecken waren zum Teil zerbrochen, was auf eine teils heftige Wellenbewegung etwa durch Stürme hindeutet. Weil diese Kräfte aber nur bis in 30 Meter Tiefe stark genug wirken, kann es hier nicht tiefer gewesen sein. Auch fanden sich Reste von Algen, die in größeren Tiefen nicht gedeihen können. Warum muss es Inseln gegeben haben? Etwa, weil in den Meeressedimenten Ton gefunden wurde, der nur von Landmassen stammen kann.

Mit einem Sieb filtern Studenten Knochen aus dem Sedimentschlamm

Warum die Dinosaurier allesamt in der Schicht aus Meeresablagerungen konserviert sind? Das lasse sich vielleicht ergründen, weil sie nun erstmals Fossilienteile "in situ", also zusammenhängend an Ort und Stelle finden könnten, sagt Wings. So lasse sich zum Beispiel die Meeresströmung rekonstruieren. Um ein Bild von der damaligen Lebenswelt zu zeichnen, brauchen die Forscher aber Funde von weiteren bisher unbekannten Tieren. Der Forscher weist auf zwei Studenten, die mit einem Sieb den Sedimentschlamm filtern, auf der Suche nach Zähnchen von kleinen Echsen. "Wenn wir genug neues Material finden, von kleinen und großen Dinosauriern und anderen Tieren, von Pflanzenfressern und Räubern, können wir Nahrungsketten rekonstruieren", erläutert Oliver Wings. Kämen dann noch fossile Reste von Bäumen und Pflanzen hinzu, ließe sich auf das gesamte Ökosystem schließen.

Warum aber, bei aller Faszination für Dinosaurier, kann es wichtig sein zu wissen, was vor 154 Millionen geschah? "Weil es dabei auch um die Frage geht, wie sich Ökosysteme entwickeln", sagt Oliver Wings. "Unsere Arbeit hilft also zu prognostizieren, was mit dem Leben auf der Erde geschehen wird." Apropos: Zu Lebzeiten des Europasaurus waren die Dinos noch die unumschränkten Herrscher der Welt. Etwa 90 Millionen Jahre später starben sie aus unbekannten Gründen aus.

Bleibt zu hoffen, dass es uns Menschen besser ergehen wird.

Eine Fotogalerie zeigt die Ausgrabungen: www.abendblatt.de/europasaurus