Stefan Hell hat ein neuartiges Lichtmikroskop erfunden, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Jetzt erhält er den Chemie-Nobelpreis
"Vergiss es, das hat in 120 Jahren niemand geschafft." "Das kann nicht funktionieren." "Du wirst scheitern." Man ist ihm mit viel Skepsis begegnet in all den Jahren; etliche namhafte Experten zweifelten an seiner Idee. Doch Stefan Hell machte weiter: "Ich wusste, dass ich ein starkes Prinzip entdeckt hatte. Wenn ich den Mut verlöre, würden irgendwann andere Forscher darauf kommen."
Er konstruierte ein neuartiges Lichtmikroskop, das lebende Zellen bis zu zehnmal schärfer abbilden kann als konventionelle optische Geräte - und brach damit ein Gesetz, das viele Physiker für endgültig hielten. Hells Hartnäckigkeit hat sich gelohnt: Wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am Mittwoch in Stockholm mitteilte, erhält der Forscher den Nobelpreis für Chemie, zusammen mit den US-Amerikanern Eric Betzig und William Moerner.
Wie tief können wir mit optischen Mikroskopen in die Welt der kleinsten Teilchen vordringen? Dazu hatte der deutsche Physiker Ernst Abbe 1873 eine Regel formuliert, die er aus der Natur des Lichts ableitete. Licht besteht aus Photonen - Teilchen, die sich in Wellen ausbreiten. Durch ein Objektiv kann man Licht bündeln, aber nur bis auf die Hälfte einer Wellenlänge, 200 Nanometer. Das entspricht etwa dem Zweihundertstel einer Haaresbreite. Strukturen, die enger zusammenliegen, werden quasi gemeinsam beleuchtet und verschwimmen so zu einem einzigen Fleck; sie lassen sich also nicht getrennt betrachten - glaubte Abbe.
Zwar kam einige Jahrzehnte später mit dem Elektronenmikroskop eine scharfsichtige Alternative in die Labore. Heute können die modernsten dieser Geräte, die statt Licht einen Elektronenstrahl nutzen, bis zu 0,1 Nanometer kleine Strukturen abbilden. Doch müssen die Proben trocken sein und - fein geschnitten - in einem Vakuum fixiert werden. Das macht es unmöglich, lebende Zellen zu mikroskopieren.
Lichtmikroskope wiederum galten als ausgereizt. Nur Stefan Hell glaubte, dass sich die Auflösungsgrenze überwinden lasse. "An der Natur des Lichts konnte ich natürlich nichts ändern. Deshalb suchte ich nach anderen Lösungen", erzählt der Physiker. Doch als er damit nach seiner Doktorarbeit 1990 begann, erntete er nur Kopfschütteln; er fand nicht mal eine wissenschaftliche Stelle in Deutschland. Mit einem Stipendium ging er an die Universität Turku in Finnland und wälzte Lehrbücher.
Normalerweise ist ein Molekül in einem niederenergetischen Zustand. Wird es durch Lichtteilchen angeregt, geht es in einen höherenergetischen Zustand über, strahlt das Licht in einer anderen Wellenlänge zurück und geht in den Grundzustand zurück.
Im Spätsommer 1993 stieß Hell dann auf die sogenannte stimulierte Emission - und mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: "Wenn sich Teilchen anschalten ließen, könnte ich sie auch ausschalten - und so nur die Strukturen sichtbar machen, die ich sehen wollte." Für dieses An- und Ausschalten eignen sich besonders gut fluoreszierende Farbstoffe, stellte Hell fest und skizzierte seine Theorie: Würde er Proben mit solchen Farbstoffen markieren, könnte er zunächst mit einem grünen, höherenergetischen Laserstrahl den Leuchtprozess anregen. Weil bis zum Leuchten der Farbmoleküle aber eine Milliardstel Sekunde vergeht, könnte er das Molekül mit einem roten, niederenergetischen Laserstrahl stören, wodurch es in den Grundzustand zurückfiele - ohne zu leuchten.
Er rechnete es durch und sagte stolz zu seinem finnischen Chef: "Es funktioniert!" Der entgegnete: "Auf dem Papier." 1994 gelang es Hell, seine Idee in der US-Fachzeitschrift "Optics Letters" zu veröffentlichen. "An hochrangigere Magazine traute ich mich nicht heran. Ich war ja ein Nobody", erzählt Hell.
Tatsächlich war er ein Mann mit einer bahnbrechenden Idee, aber noch ohne Labor. 1996 stellte ihn das Max-Planck-Institut in Göttingen für fünf Jahre als Leiter einer Nachwuchsforschergruppe an. Mit Fördermitteln des Bundesforschungsministeriums konnte er 1998 einen Prototypen seines STED-Mikroskops bauen - das Kürzel steht für Stimulated Emission Depletion, stimulierte Emission-Löschung.
Doch noch 2000 lehnten die renommierten Magazine "Science" und "Nature" seine Idee ab. Erst eine Veröffentlichung im Magazin "PNAS" brachte den Durchbruch. Als Nachwuchsforscher hatte er mehr als 30 Bewerbungen für eine Professur rausgeschickt. Plötzlich umwarben ihn das Londoner King's College und ein Dutzend weiterer renommierter Hochschulen. Und die Göttinger boten ihm eine Stelle als wissenschaftlicher Direktor an. Er ist geblieben, obwohl er 2008 sogar einen Ruf aus Harvard erhielt.
2007 kamen die ersten STED-Mikroskope auf den Markt. Die neue Technik wissen insbesondere Mikrobiologen, Biochemiker und Mediziner zu schätzen, die nun teilweise live beobachten können, wie die vielen Tausend Proteine in lebenden Zellen agieren und miteinander kommunizieren. Hirnforschern gelang es 2008 mit einer Auflösung von 60 Nanometern erstmals, die Bewegungen an den Kontaktstellen von Nervenzellen sichtbar zu machen. Mittlerweile ist eine Auflösung von 20 Nanometern erreicht. Durch die neuen Einblicke könnten Krankheiten künftig besser behandelt werden.
2011 erhielt Stefan Hell bereits den mit 750.000 Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft. Nun kommt mit dem Nobelpreis weiteres Geld hinzu. Hell wird es nutzen, um Techniken erforschen, mit denen sich die Fluoreszenzfarbstoffe mit weniger Licht an- und ausschalten ließen. Das würde die Auflösung nochmals erhöhen, außerdem ließe sich die schädigende Wirkung reduzieren, welche die Laser auf die Zellen haben können.
Heute gilt Hell als Visionär. Er sagt dazu nur: "Es gibt noch viel zu tun."