Forscher sind überrascht vom Entwicklungsvorsprung musizierender Vorschüler, denn häufig singende Kinder seien schlauer.
Hamburg. "Hänschen klein" und "Alle meine Entchen" könnten wichtiger sein, als man denkt. Angesichts musikalischer Frühförderung mit musikpädagogisch ausgeklügelten Konzepten kommt es eher unspektakulär daher: Das ganz normale, alltägliche Singen von Kinderliedern ist ein Entwicklungsbeschleuniger für Kinderhirne. In einer Beobachtungsstudie wurden an der Universität Bielefeld 500 Vorschulkinder auf ihre Schultauglichkeit untersucht - und die Kinder, die bis dahin in ihrem Leben viel gesungen hatten, waren deutlich besser für die Schule geeignet als die Nichtsinger.
Bei den viel singenden Kindern waren 89 Prozent schultauglich, aber nur 44 Prozent bei den wenig oder gar nicht singenden Kindern. Und das, obwohl keine Chor-Kinder untersucht wurden, sondern Kinder, die lediglich zu Hause oder im Kindergarten gesungen hatten. Der Soziologe Dr. Thomas Blank, der zusammen mit dem Musikpädagogen Dr. Karl Adamek die Studie durchgeführt hat, hatte zwar mit einem Entwicklungsvorteil für die singenden Kinder gerechnet. "Das Ergebnis hat uns aber in seiner Deutlichkeit doch überrascht", so Blank.
Zunächst wurden die Kinder im Rahmen der ärztlichen Schuleignungsuntersuchung daraufhin getestet, wie viel Singerfahrung sie hatten. Dazu wurden mehrere kleine Stimmproben aufgenommen - etwa ein Lieblingslied singen und eine vorgesungene Tonfolge wiederholen. Diese Stimmproben wurden von drei Experten beurteilt und gaben, zusammen mit den Aussagen der Eltern und Kinder über ihre Sangesfreude, eine Einschätzung, ob es sich um ein Kind mit einer geübten Singstimme handelte oder nicht. Die Ergebnisse verglichen die Wissenschaftler mit den Beurteilungen der ärztlichen Schuleignungsuntersuchung. Dabei ging es neben kognitiven Fähigkeiten auch um körperliche Tests, die von den Singkindern in der Regel besser bewältigt wurden als von den Nichtsingern.
"Musik macht schlau" - auf diesen kurzen Nenner werden die Ergebnisse der vielen Studien oft gebracht, die in den letzten Jahren zur Wirkung der Musik gemacht wurden. Dabei geht es jedoch meistens um gezielte Musikförderung von Schulkindern. Das Besondere der Bielefelder Untersuchung ist, dass es offensichtlich reicht, einfach viel zu singen, um Kompetenzen zu erlangen, die für die Einschulung wichtig sind. Und - ein wichtiges Ergebnis der Studie - das bessere Abschneiden der singenden Kinder ist unabhängig vom sozialen Status der Eltern. Auch in sozial schwächeren Familien schneiden die singenden Kinder bei den Schuleingangsuntersuchungen besser ab als die, die wenig oder gar nicht singen.
Kinder wollen singen. Zu den ersten Lauten gehört vergnügtes Girren in verschiedenen Tonlagen und das erste Da-Da-Ma-Ma-Gebrabbel ist gleichermaßen Sprechen und Singen. Kaum können sie stehen, wiegen sie sich im Takt der Musik vom CD-Player und freuen sich, wenn sie "mitsingen" können. Doch irgendwann merken sie, dass die Erwachsenen nicht singen, dass es ihnen sogar peinlich ist - und wenn niemand mit ihnen singt und musiziert, verlernen sie das spontane Singen. Mit großem Nachteil für ihre körperliche, kognitive, soziale und emotionale Entwicklung, wie Neurobiologen inzwischen wissen.
Der Neurologe und Musikmediziner Professor Eckart Altenmüller an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover hält das Singen für eine "Spielwiese" der Sprachentwicklung. "Kinder, die viel singen, sind besser darin, den Sprachklang und die durch Sprache ausgedrückten Emotionen zu interpretieren", sagt Altenmüller. "Das fördert ihre Sprachentwicklung, denn Sprache hat immer auch damit zu tun, wie ich Affekte ausdrücke und wahrnehme." Kinder, die singen, können Laute besser unterscheiden, was ihnen beim Lernen der Sprache hilft. Blank berichtet von einem Kindergarten in Essen, in dem der Sprachförderbedarf zum Beispiel bei Kindern, die nicht in ein Singprogramm einbezogen waren, bei 40 Prozent lag - singende Kinder brauchten ausnahmslos keine Sprachförderung mehr.
Spielerisches Singen macht kleinen Kindern viel Spaß. "Das Kind erlebt ein Gefühl der Selbstwirksamkeit", so Altenmüller. "Ich bin da, ich gebe ein Signal!" Singen fordert wie kaum eine andere Tätigkeit den ganzen kleinen Menschen: Das Hirn muss die Stimmbäder koordinieren, genau im richtigen Moment muss der richtige Ton getroffen werden, der Atem muss frei fließen, was wiederum nur mit einer aufrechten Körperhaltung geht. Dazu werden Nervenbotenstoffe wie Serotonin und Oxytocin ausgeschüttet, die Glücksgefühle und Friedfertigkeit fördern - wenn Kinder begeistert singen, sind sie körperlich und psychisch in Höchstform. All das kann Musikhören nicht leisten. "Aktives Musizieren ist ein dramatischer Reiz für Hirnwachstum und Vernetzung, Musik hören beeinflusst Stimmungen", so Altenmüller.
Der wohltuende Effekt des Singens wirkt sich auch bei kleinen Kindern nur aus, wenn das Singen ohne Leistungsdruck und mit viel Begeisterung geschieht. Und noch etwas zeigt die Studie: Kinder, die schwere Situationen erlebt haben, gehören oft zu den Vielsingern. Das Singen scheint ihnen bei der Bewältigung zu helfen.