Der Mensch wanderte wohl früher nach Mitteleuropa als gedacht - und musizierte dort. Die Stadt Blaubeuren offenbart ein Stück unserer Geschichte.

Tübingen/Oxford. Kaum 12 000 Einwohner, aparte Fachwerkhäuser, zwei Kirchen und zwei Museen, eingerahmt von Wiesen und Wäldern - wer nach Blaubeuren auf der Schwäbischen Alb reist, sucht entweder nach Ruhe und Entspannung. Oder nach den Ursprüngen unserer Kultur. Die Besucher der zweiten Kategorie haben Hacke, Schaufel und Kelle im Gepäck und kommen, um dem Geißenklösterle im nahe gelegenen Achtal einen Besuch abzustatten. Nichteingeweihte sehen hier einen Felsüberhang. Archäologen sehen einen der bedeutendsten Fundorte aus dem Jungpaläolithikum, jenem Abschnitt in der Altsteinzeit vor etwa 45 000 bis 10 000 Jahren, als der Mensch nach Europa einwanderte.

Seit den 1970er-Jahren haben Archäologen im Geißenklösterle ein dutzend Schnitzereien aus Mammutelfenbein und Vogelknochen ausgegraben: zwei Flöten, Schmuck und handgroße Artefakte, die Tiere und Menschen darstellen. Letztere zählen zu den frühesten bekannten figürlichen Kunstwerken der Welt. Die genaue Datierung war allerdings umstritten. Die Kunstwerke selbst sind zu kostbar, um sie durch eine Probenentnahme zu gefährden, also datieren Archäologen die Überreste von Mammuts, Wollhaarnashörnern und Rentieren, die in Höhlen gefunden worden waren. 40 000 Jahre alt waren diese, schätzten Tübinger Forscher im Jahr 2000 - Kollegen von anderen Hochschulen hielten die Überreste für jünger. Nun hat ein Team um die Archäologen Prof. Nicholas Conard von der Universität Tübingen und Thomas Higham von der Universität Oxford die Überreste mit einer neuen Methode analysiert. Demnach sind die Objekte sogar 42 000 bis 43 000 Jahre alt. Das Aurignacien, wie die älteste Kultur genannt wird, die figürliche Kunstwerke und Musikinstrumente hervorbrachte, begann also schon früher als angenommen, schreiben die Forscher im "Journal of Human Evolution".

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Bisher hatten Archäologen mit Verunreinigungen zu kämpfen, wenn sie die etablierte C14-Methode (Radiokohlenstoffdatierung) anwandten. Mit diesem Verfahren lassen sich Gegenstände datieren, die bis zu 60 000 Jahre alt sind. Es basiert darauf, dass in abgestorbenen organischen Materialien die Menge an Kohlenstoff 14, einem radioaktiven Isotop des Kohlenstoffs, abnimmt. Die noch vorhandenen C14-Isotope können Forscher messen und daraus das Alter des Materials berechnen. Allerdings waren die Objekte im Laufe ihrer Lagerung mit jüngeren Kohlenstoffpartikeln verunreinigt worden, was zu einer jüngeren Altersbestimmung führt. Um Verunreinigungen aus den in der Höhle entdeckten Knochen herauszufiltern, nutzte Thomas Higham in Oxford die noch junge Technik der Ultrafiltration. Erst danach datierte er die Proben mit der C14-Methode.

Wenn, so folgern Higham und seine Kollegen, die Bewohner der Höhle vor 43 000 Jahren dort ihre Beutetiere verzehrten, könnten sie in dieser Zeit auch die Musikinstrumente und figürlichen Darstellungen geschnitzt haben. Für die Freunde von Superlativen gibt es demnach einen neuen Rekord - vorerst: Die zwei Flöten, die im Geißenklösterle gefunden wurden, galten bereits vorher neben weiteren Flöten, die im benachbarten Hohlefels und in der Vogelherdhöhle ausgegraben wurden, als die weltweit ältesten Musikinstrumente dieser Art. Jetzt sind die Flöten aus dem Geißenklösterle per wissenschaftlichem Entscheid gealtert und liegen somit knapp vorn - zumindest solange, wie die Überreste von Beutetieren in den beiden anderen Höhlen noch nicht nach dem neuen Verfahren untersucht worden sind.

Für solche Vergleiche interessieren sich die Archäologen weniger; sie beschäftigt vielmehr, was die neue Datierung über die Besiedelung in Mitteleuropa aussagen kann. Vor etwa 40 000 Jahren begann dort eine Kaltphase. Erst danach, so die bisherige Annahme, wanderten moderne Menschen, von der Schwarzmeerregion kommend, entlang der Donau nach Mitteleuropa ein, zu einer Zeit, als der Kontinent bereits von Neandertalern bewohnt war. "Jetzt können wir nachweisen, dass die Einwanderung von modernen Menschen früher begann", sagt Nicholas Conard.

Die neue Datierung lasse zudem den Schluss zu, dass das Aurignacien womöglich im heutigen Süddeutschland seinen Anfang nahm. Denn Funde aus Italien, Frankreich, England und anderen Regionen, die ebenfalls dem Aurignacien zugeordnet werden, seien 500 bis 1000 Jahre jünger. Und dort seien zwar ähnliche Steinartefakte ausgegraben worden, allerdings fanden sich keine Musikinstrumente und geschnitzte figürliche Darstellungen. Wenn man so will, hat Baden-Württemberg also schon vor 43 000 Jahren damit begonnen, seinem Ruf als Innovationsschmiede gerecht zu werden. Das Ländle als Wiege von Kunst und Musik zu bezeichnen, wäre aber zu vermessen.

Wahrscheinlich ging die Kunst nur von modernen Menschen aus und nicht von Neandertalern, die nach neueren Erkenntnissen in Europa bis zu 5000 Jahre in der Nachbarschaft des Menschen lebten. Denn von Neandertalern sind bisher keine figürlichen Kunstwerke oder Musikinstrumente bekannt. Unklar ist, wie und warum der Mensch zum Künstler und Musiker wurde. Waren es die damaligen Klimaschwankungen, die zum Zusammenleben in größeren Gruppen (Neandertaler lebten nur in kleinen Gruppen) zwangen und die Entstehung von Kultur begünstigte? War die Neandertaler-Konkurrenz die Triebfeder? "Meine Lieblingsthese ist, dass der Mensch zur Kunst kam, einfach weil er kreativ war", sagt Conard. "Aber das kann ich nicht beweisen."

Mehr zum Zusammenleben des modernen Menschen und des Neandertalers www.abendblatt.de/menschen-neandertaler