Je nach Herkunft der Ware gibt es verschiedene EU-Limits für radioaktive Belastung. Deutsche Initiative will einheitliche Werte.
Hamburg. Seit Anfang April gelten in Japan deutlich schärfere Grenzwerte für die radioaktive Belastung von Lebensmitteln. Ganz anders in der EU: Würde sich in einem der Mitgliedstaaten ein nuklearer Unfall ereignen, hätte die Kommission in Brüssel eine Notfallverordnung in der Schublade, die weit höhere Belastungen zulässt als die in Bezug auf die Reaktorkatastrophen von Fukushima oder Tschernobyl erlassenen Limits. Das kritisiert die Verbraucherorganisation Foodwatch.
Das europäische "Grenzwert-Chaos" (Foodwatch) arbeitet mit drei verschiedenen Regelwerken. Das Problem hat auch das Bundesumweltministerium (BMU) erkannt: "Deutschland hat im August 2011 eine Initiative gestartet, um die derzeitige verwirrende Situation zu bereinigen. Im März ging das offizielle Schreiben an die EU-Kommission", sagt BMU-Sprecher Jürgen Maaß.
Die Grenzwerte beziehen sich vorwiegend auf die Cäsiumbelastung von Lebensmitteln. Denn die beiden radioaktiven Cäsiumvarianten, die Isotope -134 und -137, zerfallen relativ langsam. Cäsium-134 hat nach zwei Jahren, Cäsium-137 nach 30 Jahren die Hälfte der Radioaktivität eingebüßt. Am strengsten sind die von Japan übernommenen EU-Grenzwerte für den Import von japanischen Produkten. Säuglingsnahrung darf höchstens mit 50 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) belastet sein, ebenso Milch und Milcherzeugnisse (s. Tabelle). Bei anderen Nahrungsmitteln sind 100 Bq/kg zulässig.
Schon die bis März maßgeblichen japanischen Grenzwerte waren strenger als die beiden europäischen Regelungen. Im Mai 1986 wurden nach dem Gau in Tschernobyl Höchstgrenzen für Lebensmittel eingeführt, die aus den betroffenen Ländern, vor allem aus der Ukraine und Weißrussland stammen. Die sogenannte Tschernobyl-Verordnung gilt noch heute. Sie wurde bis ins Jahr 2020 verlängert und ist inzwischen der generelle Maßstab für radioaktiv kontaminierte Lebensmittel.
Die dritte Regel bleibt hoffentlich in der Schublade. Denn sie enthält Höchstwerte für Nahrungs- und Futtermittel "im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notsituation" (Wortlaut der Verordnung) innerhalb der EU-Grenzen. Sollte sich eine solche nukleare Krise tatsächlich ereignen, kämen Grenzwerte zum Zuge die ein Vielfaches über dem japanischen Niveau liegen.
"Wir fordern ein einheitliches Grenzwert-Regime. Auch im Katastrophenfall ist es wichtig, möglichst unbelastete Produkte zu den Menschen zu bringen, um die eingenommene Strahlendosis so niedrig wie möglich zu halten", betont Martin Rücker von Foodwatch; jeder einzelne radioaktive Zerfall könne Krebs auslösen. Die Werte der "Schubladenverordnung" seien 1989 relativ hoch festgelegt worden, um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen. "In der heutigen globalisierten Welt sollte eine Versorgung mit weitgehend unbelasteten Produkten möglich sein."
Die gut 20 Jahre alte Notfallverordnung gehe davon aus, dass in Europa nur belastete Lebensmittel zu haben sind, und wolle diese Belastung begrenzen, sagt BMU-Sprecher Maaß. Zudem sei ihr Geltungsbereich auf drei Monate beschränkt. Sollte die jetzt gestartete deutsche Vereinheitlichungsinitiative in Brüssel Erfolg haben, werden die Grenzwerte wahrscheinlich überprüft. Wie groß die Chance ist, dass sie dann strenger werden, dazu mochte sich Maaß nicht äußern.
Die japanischen Limits seien ein echter Fortschritt, sagt Foodwatch-Sprecher Rücker, aber sie seien immer noch zu hoch. Ähnlich sieht es das Umweltinstitut München, das regelmäßig Lebensmittel auf Radioaktivität untersucht. "Unabhängige Experten raten zu Nahrung mit höchstens 30 bis 50 Becquerel pro Kilogramm Cäsium-Gesamtaktivität für Erwachsene und mit höchstens zehn bis 20 Becquerel pro Kilogramm für Kinder, stillende Mütter und Schwangere", heißt es in der "Waldproduktliste 2011" des Instituts.
Die Liste zeigt, wo heute mit den größten Lebensmittelbelastungen zu rechnen ist: in Pilzen aus Regionen, die relativ stark mit dem atmosphärischem Cäsium-Niederschlag aus dem Tschernobyl-Reaktor belastet wurden. So fanden die Münchner Umweltforscher Maronenröhrlinge mit weit mehr als 600 Bq/kg - der Rekord lag bei 2505 Bq/kg in einer Probe aus Marktoberdorf. Auch Pfifferlinge und getrocknete Steinpilze aus der Steiermark (Österreich) überschritten den Grenzwert. Bei der überwiegenden Zahl der Pilze und bei allen getesteten Waldbeeren lag die Belastung dagegen deutlich unter 50 Bq/kg.
Die amtlichen Lebensmittelkontrolleure setzen bei Drittlandsimporten weiterhin den Schwerpunkt auf Waren aus der Ukraine, Weißrussland und Russland und nehmen zusätzlich dort Stichproben, wo ein Risiko vermutet wird. So testeten die Hamburger Lebensmittelkontrolleure 2010 acht Proben aus der Türkei. "Einige Regionen lagen 1986 in der Windrichtung von Tschernobyl. Wir untersuchen Pilze, Haselnüsse und Tee, weil sie Radioaktivität anreichern", sagt Sinje Lehmann vom Institut für Hygiene und Umwelt in Hamburg. Auch Grundnahrungsmittel werden getestet. Sie werden sehr viel gegessen, sodass sich eine Belastung stärker auswirken würde.
Hinsichtlich der Folgen des Reaktorunfalls von Fukushima gibt das Bundesamt für Strahlenschutz Entwarnung: Nahrungsmittelimporte aus Japan seien gering, Produkte aus der Region um Fukushima müssen, durch Messungen belegt, die japanischen Grenzwerte einhalten - und damit die strengsten Vorgaben, die es derzeit gibt.