Berlin. Viele Kinder tragen Zahnspange. Oft werden bei der Behandlung Leistungen angeboten, die die Kasse nicht zahlt. Worauf Eltern achten sollten.
Sehr viele junge Menschen mit vermeintlich schiefen Zähnen, lange Behandlungszeiten, viele private Zuzahlungen: Eine Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung nimmt einmal mehr die Branche der Kieferorthopädinnen und -orthopäden in Deutschland ins Visier. Zahnspangen, so das Fazit, seien für diese offenbar ein lukratives Geschäft. Für die gesetzliche Krankenversicherung und viele Eltern kämen sie aber teuer zu stehen.
Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen allen Kindern bis zum 18. Lebensjahr eine Zahnspange, sofern bestimmte Fehlstellungen der Zähne diagnostiziert werden. Entscheidend ist die medizinische Notwendigkeit, die in sogenannte Indikationsgruppe unterteilt ist. Davon gibt es fünf, die Kassen zahlen ab Gruppe 3.
Nach Auskunft der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), so berichten NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung, haben die Kassen im vergangenen Jahr im Schnitt 3.126 Euro für eine Zahnspange bezahlt. Die Gesamtkosten sollen sich seit Jahren auf mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr belaufen.
Dem Bericht zufolge gibt es in Deutschland dabei mehrere Auffälligkeiten: Während in Dänemark, Schweden oder Norwegen nur zwischen 29 und 35 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Zahnspange trügen, seien es in Deutschland je nach Bundesland bis zu 60 Prozent. Und auch die Behandlungsdauer sei mit durchschnittlich 42 Monaten hierzulande sehr lang. In Österreich etwa betrage sie nur 26 Monate.
Zahnspangen: Kritik kommt laut Bericht auch aus der Branche selbst
Ursache für lange Behandlungszeiten in Deutschland seien nicht etwa medizinische Notwendigkeiten, sondern eher die Wünsche der Ärztinnen und Ärzte nach einem hohen Einkommen. So zitieren NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung den Kieferorthopäden Henning Madsen, der seine eigene Branche seit Jahren kritisiert. Auch die Zahl der Zahnspangenträger ist aus Madsens Sicht unnötig hoch.
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Kritik am Verhalten vieler Kieferorthopädinnen und -orthopäden kommt dem Bericht zufolge auch von den Verbraucherzentralen. Diese beobachteten oftmals eine „Geschäftemacherei“ mit kostenpflichtigen kieferorthopädischen Leistungen, die die Kasse nicht zahlen. Diese seien in der Regel unnötig, so Verbraucherschützerin Gesa Schölgens laut dem Bericht. Viele Eltern fühlten sich darüber schlecht informiert und teilweise auch bedrängt.
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Nach Angaben der Verbraucherzentralen werden etwa acht von zehn Eltern private Leistungen angeboten. Die Zuzahlungen summierten sich schnell auf 500 bis 2000 Euro. Dabei geht es den Angaben zufolge vor allem um spezielle Materialien, die die Behandlungszeit angeblich verkürzten oder in der Anwendung weniger schmerzhaft seien sollen. Aussagen, die nicht durch wissenschaftliche Studien gedeckt seien.
Gutachten beklagt fehlende Belege über den Nutzen
Den Sinn und Zweck vieler kieferorthopädischer Behandlungen anzuzweifeln, ist dabei nicht neu. Bereits im April 2018 hatte der Bundesrechnungshof darauf hingewiesen, dass es keine medizinische Studie gebe, die den Nutzen dieser Behandlungen wirklich beweise. Und auch ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten bekräftigte diese Zweifel.
„Auch, wenn wir keine Belege für einen Nutzen der Kieferorthopädie bei Zahnfehlstellungen gefunden haben, mag es ihn doch geben“, sagte der Autor des Gutachtens, Holger Gothe, im Januar 2019. Und weiter: „Das Erfahrungswissen der Kieferorthopäden aus jahrelangen Anwendungen steht in auffallendem Gegensatz zu einem Mangel an Belegen aus wissenschaftlichen Untersuchungen.“ Eine abschließende Einschätzung, welchen langfristigen Nutzen Patienten von einer kieferorthopädischen Behandlung haben, sei nicht möglich. Um klarer zu sehen, brauche es dringend weitere, zielführend angelegte Studien.
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Der Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden hält diese Einschätzung für falsch. Er hat sich bereits mehrfach gegen die öffentlich diskutierte Kritik an dem Tun der Branche gestemmt. Für den Verband sei nicht nur die Wirksamkeit kieferorthopädischer Behandlungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität nachgewiesen, sondern auch ein unmittelbarer patientenrelevanter Nutzen. Und zwar in Form „der Wiederherstellung von Körperfunktionen sowie der Beseitigung von Zahnfehlstellungen“. „Auch die präventiven Wirkungen kieferorthopädischer Behandlungen sind Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen“, so der Verband in einer ausführlichen Stellungnahme.
Verbraucherzentralen: Selbstzahlerleistungen gesondert vereinbaren
Für Verbraucherinnen und Verbraucher, die die Studienlage nicht überblicken können, dürften viele Fragen offenbleiben: „In vielen Fällen ist die Grenze zwischen medizinischer Notwendigkeit und ästhetischen Gründen für eine Zahnspange fließend“, erklären die Verbraucherzentralen. Diese führten nicht in jedem Fall zu einer verbesserten Zahngesundheit.
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Bei medizinischer Notwendigkeit, so bekräftigen die Verbraucherschützer, hätten Kinder und Jugendliche Anspruch auf eine zuzahlungsfreie Behandlung. Zahnärztinnen und -ärzte dürften eine Kassenbehandlung nicht verweigern oder von privaten Zusatzleistungen abhängig machen.
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Böten Kieferorthopäden darüber hinaus Methoden und Geräte an, die selbst zu zahlen sind, falle das in die Wahlfreiheit der Patienten. Diese privaten Zusatzleistungen sollten, soweit gewünscht, auf gesonderten, verständlichen Formularen schriftlich vereinbart werden. Eltern sollten dazu eine Auflistung aller Privatleistungen mit Kosten verlangen.