Berlin. Diabetes verändert den Alltag von Betroffenen und ihren Familien. Gleichzeitig ist das Wissen über die Erkrankung aber lückenhaft.
Miriam Ritter erinnert sich noch gut an die Zeit, die das Leben ihrer vierköpfigen Familie für immer veränderte: Ihr Sohn Laurian ist fünf Jahre alt, als er plötzlich ständig auf die Toilette muss. Weil er so viel Flüssigkeit verliert, trinkt er immer mehr. Der Arzt stellt bei Laurian schließlich einen hohen Zuckerwert fest und schickt die Familie sofort ins Krankenhaus. Die Diagnose: Diabetes Typ 1.
Zwei Wochen blieb Laurian damals in der Klinik, bekam sein erstes Insulin – und für ihn, die Eltern und seine damals dreijährige Schwester begann ein Lernprozess, der auch ihr ganzes Umfeld beanspruchte: Der Zuckerwert musste alle zwei Stunden, Tag und Nacht, kontrolliert werden – weil der Körper noch eigenes Insulin produzierte.
Vor jeder Mahlzeit wurden ab sofort die Kohlenhydrate ausgerechnet, und wenn der Junge den Teller nicht leer aß, wurden die Eltern nervös, weil sie möglicherweise zu viel Insulin gespritzt hatten. „Das hat allen erst mal den Spaß am Essen verleidet“, sagt Miriam Ritter, die mit ihrem Sohn auch den Alltag im Umgang mit der Insulinpumpe üben musste. Doch nicht nur sie, auch die Erzieher und die Lehrer von Laurian ließen sich darin schulen.
95 Prozent sind an einem Typ-2-Diabetes erkrankt
So kommt es, dass jetzt, ein Jahr später, alle in der Schule wissen, wo der Traubenzucker aufbewahrt wird, wenn Laurian etwa im Sportunterricht unterzuckert. Der Junge braucht keinen Integrationshelfer, er kommt alleine zurecht und hat Übung darin, vor dem Schulfrühstück den Blutzucker zu messen. „Der Diabetes nervt, aber er gehört halt dazu. Auch im Urlaub. Dann haben wir die gesamte Ausrüstung – also Insulin, Kanülen, Teststreifen – in dreifacher Ausfertigung in einem Extrakoffer dabei“, sagt Miriam Ritter. „Schließlich weiß man nie, ob am Urlaubsort alles wie gewohnt in der Apotheke geholt werden kann.“
Miriam Ritter und ihr Mann Christoph engagieren sich in einer Elterninitiative und können inzwischen anderen unter die Arme greifen. Und das sind immer mehr: In Deutschland haben etwa 6,7 Millionen Menschen Diabetes. Mehr als 95 Prozent sind an einem Typ-2-Diabetes erkrankt, der zumeist im höheren Lebensalter auftritt. Unter den Kindern und Jugendlichen bis 14 Jahre werden nach Angaben des Deutschen Diabetes-Zentrums (DDZ) mit Sitz in Düsseldorf etwa 2200 Neuerkrankungen an Typ-1-Diabetes pro Jahr festgestellt – eine Rate, die höher ist als in vielen anderen europäischen Ländern.
Süßigkeiten und Kuchen gehen nur in kleineren Mengen
„Das Informationsbedürfnis von Menschen mit Diabetes ist groß“, sagt Professorin Andrea Icks, Direktorin des Instituts für Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie am DDZ. Das betreffe verschiedene Aspekte der Erkrankung, vor allem Folgeerkrankungen und Möglichkeiten der Therapie, aber auch das Leben mit Diabetes im Alltag und soziale und rechtliche Aspekte, wie Icks in Befragungen von Betroffenen festgestellt hat.
Ebenso wie Miriam Ritter und ihre Familie berichten die Befragten zudem vom Zeitaufwand, den ihre Krankheit ihnen abfordert – den Blutzucker zu messen, die Einnahme von Medikamenten, das summiert sich nach Erkenntnissen der Professorin im Mittel zu einer Stunde am Tag. Familien müssen auf einmal ihren Speiseplan für den Betroffenen ändern und dafür speziell einkaufen gehen – zum Beispiel Kichererbsennudeln statt kohlenhydratreicher Spaghetti aus Weizen. Laurian darf im Grunde alles essen, muss im Gegenzug aber Insulin spritzen. Seine Mutter weiß: Einzig Süßigkeiten und Kuchen gehen nur in kleineren Mengen, denn dann steigt der Zucker zu schnell an. Ebenso bei Säften. „Aber sonst gilt: normale, gesunde Ernährung“, sagt Miriam Ritter.
70 Prozent der Patienten wissen nichts über ihre Nervenschäden
Viele Menschen mit Diabetes kennen sich allerdings nicht genug mit ihrer Erkrankung und den möglichen gefährlichen Folgen aus, zu denen vor allem die Nervenschäden (Neuropathien) zählen. Das haben Studien ergeben, die Professor Dan Ziegler, stellvertretender Direktor des Instituts für Klinische Diabetologie am DDZ, betreut: „70 Prozent der Patienten wissen nichts über ihre Nervenschäden – und gegen ihre Schmerzen bekommen sie auch keine richtige Therapie, die beim Diabetologen oder Hausarzt in die Wege geleitet werden kann“, sagt Ziegler.
Damit Betroffene und ihre Familien ihren Alltag möglichst gut managen können, hat das DDZ Informationsdienste eingerichtet: So informiert diabetesinformationsdienst.de über Diabetes, seine Prävention, Diagnose, Therapie, mögliche Begleit- und Folgeerkrankungen, Diabetes im Alltag, Reisen, Kochrezepte und vieles mehr. „Diabetes – nicht nur eine Typ-Frage“ (diabetes-typ.de) ist eine Initiative zur Stärkung des Bewusstseins für die Erkrankung, gefördert vom Bundesgesundheitsministerium. In kurzen Filmen werden Fragen beantwortet.
Informationsdienste helfen betroffenen Familien
Speziell für Kinder, die durch Bewegungsmangel und falsche Ernährung ein hohes Risiko in sich tragen, in späteren Lebensjahren an Typ-2-Diabetes zu erkranken, wurde die Initiative (SMS – Sei schlau. Mach mit. Sei fit. sms-mach-mit.de) ins Leben gerufen: „Die Kinder machen zum Beispiel einen Ernährungsführerschein und lernen den Umgang mit Lebensmitteln oder Küchengeräten“, sagt Professor Karsten Müssig, stellvertretender Direktor der Klinik für Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Er leitet die Initiative, die seit sechs Jahren fester Bestandteil des Stundenplans in 17 Schulklassen in NRW ist.
Ein Bewegungsprogramm gehört natürlich auch dazu und die wissenschaftliche Begleitung hat ergeben, dass sich bei den Kindern nicht nur Kraft und Ausdauer, sondern auch Herzfrequenz und Blutdruck sowie ihr Wissen und die Fertigkeiten zu einer ausgewogenen Ernährung verbessert haben.