Hamburg. Achter Teil: Einen Menschen zu pflegen ist ein Knochenjob. Wer nicht auf sich achtet, riskiert, selbst pflegebedürftig zu werden.
Die Landstraße führt mitten durch die Seenlandschaft des Naturparks Lauenburgische Seen. Rund 75 Autominuten von Hamburg entfernt, erhebt sich plötzlich ein riesiges Gebäudeareal mit dem Charme der 70er-Jahre. Ein Schild in der Lobby der Röpersberg-Gruppe weist den Weg zum Alzheimer Therapiezentrum.
Kaum jemand würde in diesem Moment ahnen, dass für viele pflegende Angehörige dieses Haus zwischen Ratzeburg und Mölln so etwas wie die letzte Hoffnung ist. Patienten, die diese Abteilung der Röpersberg-Klinik aufsuchen, sind fast immer am Ende ihrer Kräfte, weil sie einen Angehörigen mit Demenz pflegen. Das Besondere an diesem Zentrum: Die ausgebrannten Pflegenden können ihren Partner mitbringen. Während dieser auf einer eigenen Station therapiert wird, tanken die Angehörigen in einem benachbarten Trakt Kraft.
Wer durch das Alzheimer-Therapiezentrum geht, wundert sich über eine Geschlechtertrennung: bei den Angehörigen fast nur Frauen, im Demenzkrankenbereich fast ausschließlich Männer. „Frauen halten bei der Pflege länger durch“, sagt Chefarzt Synan Al-Hashimy, „Männer geben häufig früher auf und ihre Partnerin in ein Heim.“
Eine Patientin ist Hilde Schulz (79). Sie hat uns erlaubt, dass wir ihre Geschichte aufschreiben dürfen. Nur den Namen haben wir geändert:
Im Video: Ein Angehöriger erzählt
„Mein Mann hatte 2002 einen schweren Schlaganfall. Seitdem baut er leider immer weiter ab. Dass mit seinem Gedächtnis etwas nicht mehr stimmt, habe ich sehr bald geahnt. Er hat einfach immer mehr vergessen. Als man ein MRT von seinem Kopf gemacht hat, konnte ich sogar als Laie auf den Aufnahmen erkennen, wie sich Gehirn von der Großhirnrinde gelöst hat. Seitdem haben wir Gewissheit, dass er Demenz hat. Der Zustand hat sich leider 2012 nach einem Sturz auf der Kellertreppe weiter verschlimmert. Er hat sich fast alle Rippen gebrochen und eine Hirnblutung bekommen. Aber er hat so sehr um sein Leben gekämpft.
Jetzt habe ich nach 50 Jahren Ehe einen Mann, der sich wie ein kleines Kind benimmt. Was das für einen Angehörigen bedeutet, kann nur jemand mit dem gleichen Schicksal nachvollziehen. Mir fehlt vor allem der Schlaf, manchmal meldet sich bei meinem Mann achtmal die Blase in der Nacht. Und allein kann er nicht mehr auf die Toilette.
Wenn ich einkaufen gehe, beeile ich mich sehr, weil ich immer Angst habe, dass ihm etwas passiert. Ich weiß ja nicht, ob er den Hausnotruf noch drücken kann, wenn ihm etwas passiert. Einmal war ich nicht da, als er ihn versehentlich gedrückt hat. Er war so in Panik, als die Stimme aus dem Lautsprecher kam: „Herr Schulz, wie können wir Ihnen helfen?“ Er hat vor lauter Aufregung kein Wort sagen können, also sind die Sanitäter gekommen.
Ich kann endlich mal wieder durchschlafen
Wenn ich Bekannte treffe, fragen die mich oft, wie es meinem Mann geht. „Ganz gut“, sage ich dann, mein Mann ist ja auch fast immer dabei. Und in seiner Gegenwart rede ich doch nicht über seine Probleme. Wir haben einen ganz lieben Sohn. Aber der hat auch Familie und seine eigenen Sorgen. Ich will ihn nicht belasten. Nur manchmal würde ich mir wünschen, dass auch mal jemand fragt, wie es mir geht. Aber man muss ja stark sein, also schlucke ich meinen Kummer lieber runter.
Nur manchmal, wenn mir wirklich alles zu viel wird, platze ich schon mal. Es sind fast immer Kleinigkeiten, etwa, wenn mein Mann wieder ein Taschentuch will, obwohl ich ihm doch gerade eines gegeben habe. Wenn ich dann mal lauter werde, weint er und sagt: „Ich kann doch nichts dafür.“ Dann sage ich: „Ich aber doch auch nicht.“ Und drücke ihn ganz fest. Denn auch wenn er manchmal schimpft, ist er doch ein ganz Lieber. Mittags setzt er sich allein im Wohnzimmer in den Sessel, damit ich mich kurz hinlegen kann, um etwas Schlaf nachzuholen. Zum Glück macht er dann keinen Unsinn, läuft nicht weg oder stellt den Herd an.
Sie können sich nicht vorstellen, was mir dieser Aufenthalt hier in Ratzeburg bedeutet. Die Schwestern sind so lieb, ihre Herzen könnte man in Gold aufwiegen. Meinem Mann ist direkt am ersten Tag ein Malheur passiert, weil er sich nicht rechtzeitig für den Toilettengang gemeldet hat. Er hat geweint, weil er sich so sehr geschämt hat. Aber die Schwester hat nur gesagt: „Das ist doch nur die Aufregung, das macht doch überhaupt nichts.“
Für mich ist das hier eine Oase. Da mein Mann in seinem eigenen Zimmer gepflegt wird, kann ich vor allem endlich mal durchschlafen. Und ich kann in dieser herrlichen Natur spazieren gehen, ohne Angst um ihn zu haben. Vor allem aber lerne ich hier, auf mich selbst zu achten. Ich habe ja auch Arthrose, das Hochziehen meines Mannes vom Bett fällt mir ganz schön schwer. Er wiegt ja immerhin 75 Kilo. Eine Therapeutin hat uns gesagt, wir Angehörigen müssen handeln wie im Flugzeug, wenn die Sauerstoffmasken im Notfall herunterfallen. Auch dann muss man erst sich selbst helfen – und erst dann dem Menschen, der das nicht selbst kann.
Mir fällt das immer noch schwer. Gute Freunde haben mich praktisch dazu gezwungen, dass ich meinen Mann zumindest an zwei Tagen in die Tagespflege gebe. Sie haben gemerkt, dass ich einfach nicht mehr kann. Aber das ist jedes Mal ein ganz schöner Kampf, wenn er dann sagt: „Du willst mich doch nur abschieben.“ Er hat auch schon gedroht, dass er sich erschießen will. Aber dann bin ich auch hart und sage: „Wir haben ja gar keine Pistole im Haus.“ Es ist morgens ein ganz schöner Wettlauf gegen die Zeit. Wir stehen um 6.15 Uhr auf, um 7 Uhr kommt dann der Pflegedienst, um ihn fertig zu machen. Es geht ja alles langsam mit ihm, weil er doch so wackelig auf den Beinen ist. Aber die Zähne werden richtig gut geputzt, auch in den Ecken. Und ich will auch nicht, dass er ohne Frühstück aus dem Haus geht. Ich weiß zwar, dass in der Tagespflege auch gefrühstückt wird, aber das ist mir trotzdem wichtig.
Angehörige sprechen oft über Ängste
Durch eine Bekannte habe ich erfahren, dass man hier nach Ratzeburg seinen kranken Angehörigen mitbringen darf. Nur deshalb habe ich auch den Antrag gestellt, ich hätte nie übers Herz gebracht, ihn für ein paar Wochen in ein Heim zu geben, um alleine zu fahren. Der Antrag wurde zuerst abgelehnt. Aber Kämpfen habe ich in den Jahren gelernt. Und zum Glück war mein Widerspruch erfolgreich.
Mein Mann wollte nicht fahren, in fremder Umgebung hat er immer Angst. Aber ich habe ihm gesagt: „Wenn ich irgendwann umfalle, dann haben wir beide nichts mehr.“ Jetzt fragt er mich hier jeden Abend, wann es wieder nach Hause geht. Ich sage ihm dann, dass das die Fachleute entscheiden, das akzeptiert er. Tagsüber mache ich hier meine Therapien, aber abends bin ich doch immer bei ihm, obwohl es hier schöne Angebote gibt. Aber da will ich Zeit für ihn haben. Er trinkt wie zu Hause jeden Abend sein alkoholfreies Bier. Und wenn wir uns nichts mehr zu erzählen haben, streichele ich einfach seine Hand. Irgendwann sagt er dann, dass er jetzt austrinkt, damit ich zur Ruhe komme. Das finde ich sehr rücksichtsvoll.
Ich hoffe, dass sein Wesen so bleibt, auch wenn die Krankheit schlimmer wird. Wenn wir Angehörigen zusammensitzen, sprechen wir oft über unsere Ängste, wir wissen ja, dass die Demenz immer weiter fortschreiten wird. Es tut so gut, dass man in diesem Kreis über alles reden kann. Keiner von uns will seinen Liebsten in ein Heim geben.
Nur manchmal, wenn ich ganz am Ende bin, denke ich an einen Heimplatz. Aber das möchte ich auf gar keinen Fall. Mein Mann ist doch zu Hause am glücklichsten, ich will alles versuchen, damit er bis zum Schluss bei mir bleiben kann. Ich weiß noch genau, wie wir uns kennengelernt haben. Bei „My Fair Lady“ war das. Wie das genau damals zwischen uns begonnen hat, wird unser Geheimnis bleiben. Ich sage immer nur, dass ich ihm dreimal auf die Füße getreten bin, damit er auf mich reagiert. Seitdem gehen wir durch dick und dünn. Früher, als ich für eine soziale Einrichtung Feste organisiert habe, hat er mir oft nachts beim Aufbau geholfen. Da kann ich ihn doch nicht im Stich lassen, ich gucke auch, dass unser Schrebergarten, in den er so viel Arbeit gesteckt hat, in Schuss bleibt. Aber ich weiß auch, dass eine Ehe eine solche Krankheit nicht übersteht, wenn da schon der Wurm drin war. Das ist zum Glück bei uns nicht der Fall.
Wenn wir wieder nach Hause fahren, will ich unbedingt mehr auf mich selbst achten. Ich werde alles versuchen, dass mein Mann noch einen dritten Tag in die Tagespflege geht, damit ich was für meine Wirbelsäule tun kann. Vor allem Schwimmen. Ich muss unbedingt fit bleiben. Mein Mann braucht mich doch.
Der neue große Pflegeratgeber für Hamburg
Mit der Situation der Pflege in Hamburg beschäftigt sich auch ausführlich „Der große Hamburger Pflegeratgeber“. Auf 320 Seiten wird unter anderem erklärt, worauf man bei der Wahl eines Pflegeheims achten sollte, ob das Engagement einer Pflegekraft aus Osteuropa sinnvoll ist und welche Leistungen es für Pflegebedürftige und Angehörige gibt.
Zudem gibt es Tipps von Medizinern, Verbraucherschützern, Pflegeexperten und Juristen. Im ausführlichen Serviceteil werden Pflegeeinrichtungen, Informationsstellen sowie Bücher und Internetseiten genannt.
Der Ratgeber basiert auf den Änderungen der Pflegereform 2017. Detailliert werden die neuen Pflegegrade erklärt, die die Pflegestufen ablösen.
„Der große Hamburger Pflegeratgeber“ von Peter Wenig, 320 Seiten, 19,95 Euro, Treuepreis 16,95 Euro (gilt für alle Treuekategorien des Hamburger Abendblatts). Erhältlich in der Geschäftsstelle,Großer Burstah 18–32. Oder bestellen unter www.abendblatt.de/shop oder per Telefon 040/33 36 69 99 (Preis zuzüglich Versandkosten).