Hamburg. Der lippische oder der Toskana-Kohl sind meine neuen Pflanzen für die Bedingungen des Klimawandels. Auch für Kübel geeignet.
Longyearbyen war für mich so etwas wie ein Sehnsuchtsort. Wie für andere Leute Capri und die berühmte blaue Grotte. „Kenne ich nicht“, sagte meine Frau Anke, als ich ihr von dem 2100-Einwohner-Flecken auf der norwegischen Insel Spitzbergen vorschwärmte. Keine wirkliche Bildungslücke, beruhigte ich meine Frau. Aber als Deutschland unter Hitzegraden jenseits der 40 Grad ächzte, kletterte das Thermometer dort auf halbem Weg zwischen Nordkap und Nordpol auf zehn Grad – als Spitzenwert.
Eisbären gibt es noch auf Spitzenbergen – einer steht, ausgestopft, sogar im örtlichen Heimatmuseum. Bevor die Norweger Ölquellen vor ihren Küsten fanden, bauten sie auf Spitzbergen Kohle ab. Mit dem Öl wurden die Nachfahren der Wikinger so etwas wie die Scheichs des Nordens. Benzin aus ihrem Öl hält andernorts die Autos am Laufen, zu Hause fördern sie aus dem Verkauf von Öl kräftig die E-Mobilität – und haben mittlerweile die meisten Batterie-Autos der Welt. Pro Kopf gesehen.
Samenbank der genetischen Vielfalt
Stolz sind die Norweger auch auf den vor elf Jahren eingeweihten „Weltsaatgut-Tresor“, eine Art Samenbank der genetischen Vielfalt, für Getreide, Obst und Gemüse. Dafür sprengte man drei riesige Hallen tief in einen Berg, wo mittlerweile eine Million Proben aus rund 240 Regionen dieser Welt in arktischen Permafrostboden eingelagert sind. Staubfrei, trocken und bei permanenten 18 Grad minus sicher gegen vorzeitiges Keimen. Sicher gegen Krieg und Terror, vor zunehmenden Monokulturen auf den Feldern dieser Welt – und natürlich vor dem Klimawandel. Immer schön kalt hier, seit Menschengedenken.
Dachte man. Wetter ist das eine, Klima das andere. Weil es auch auf Spitzbergen immer wärmer wird, drang Schmelzwasser in den unterirdischen Samentresor. Oben schütteten sie verdichtete Erde auf, um die Rinnsale zu stoppen. Unten musste man die Leistungen der Klimaanlagen mehr als verdoppeln –damit es in den Hallen permanent bei minus 18 Grad bleibt. Soll jetzt für die nächsten 100 Jahre reichen.
Kalte Polarluft raffte die Pflänzchen dahin
Schadenfreude, auch klammheimlich, ist nicht angebracht. In Berlin haben sie jetzt am neuen Flughafen Richtfest gefeiert. Ein Zusatz-Terminal für einen Pannen-Airport, der acht Jahre nach der geplanten Einweihung immer noch nicht fertig ist. Daran war nicht einmal der Klimawandel schuld, sondern eine besondere Form des politischen Dilettierens. Anke sagt, das gelte aber auch für den Klimawandel.
Na gut. Als Gärtner versuche ich natürlich auch, mit der Zeit zu gehen – und den Klimawandel bei der Auswahl neuer Pflanzen zu berücksichtigen. Vor zehn Jahren etwa dachte ich, die Zeit sei schon reif, den sogenannten Spazierstockkohl in unserem kleinen Mühlenpark im Wendland auszuprobieren. Brassica oleracea longata ist ein Verwandter unseres heimischen Grünkohls. Er wird aber anders als auch die bekannte Ostfriesische Palme (Brassica oleracea var. sabellica), die es nur auf knapp zwei Meter schafft, im zweiten Standjahr über drei Meter hoch. Allerdings im milden Klima der englischen, vom warmen Golfstrom verwöhnten Insel Jersey. Bei uns ist diese Sorte im Gegensatz zum gemeinen Grünkohl nicht winterfest. Setzlinge sind schon im Frühjahr gefährdet. Etwa zu den Eisheiligen im Mai.
Ich hatte Samen des Jerseykohls Anfang April ausgebracht. Die kamen auch prima, ich hoffte auf prächtige Pflanzen, aus deren holzigen Stielen sie in England sogar Spazierstöcke schnitzen und für sie für den Stockschirm des englischen Landmannes verwenden. Kalte Polarluft raffte die zarten Pflänzchen dahin wie sonst auch mal die Apfelblüten im Alten Land.
Fehler im Garten sind kein GAU
Fehler im Garten sind kein GAU wie bei einem Unfall im Kernkraftwerk. Diesmal mache ich es besser. Ich bestelle, zur Sicherheit, schon jetzt Samen übers Internet. Jungpflanzen züchte ich schon ab März vor und pflanze sie erst nach den Eisheiligen aus.
Ich denke da an eine Art Palmengarten in unserem Mühlen-Park. Ich habe auch Samen für die Lippische Palme (Brassica oleracea convar. acephala var. sabellica) bestellt, deren Blätter und Stiele, bräunlich-violett, schon rein optisch mehr hermachen als die der Verwandten aus Ostfriesland. Als besonderen Clou habe ich die sogenannte Toskanische Palme ausgemacht. Die Blätter von Brassica oleracea var. palmifolia sind größer als die unserer heimischen Arten und leuchten in schönem Blau-Violett. Der Toskanakohl schmeckt auch feiner als unser etwas deftiger Grünkohl.
Weil die ersten Blätter der lippischen Variante früher gern ans liebe Vieh verfüttert wurden, heißt die auch Ziegenkohl. In Italien wird der blaue Kohl gern als Salat gegessen oder als Bestandteil der „Ribollita“, einer ländlichen Gemüsesuppe mit Bohnen, Staudensellerie, Zwiebeln, Kartoffeln, Knoblauch, Öl und Weißbrot vom Vortag.
Die Toskanische Palme eignet sich gut für die Pflanzung in Kübeln, die aber mindestens 30 Liter groß sein sollten. Sie braucht im Sommer regelmäßig Wasser und im Winter ein schützendes Vlies. Oder einen frostfreien Platz im Haus. Dann werden sie im zweiten Jahr auch fast drei Meter hoch.
Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth