Hamburg. Sie schützen sich vor allzu starkem Sonnenlicht, indem sie die reflektierenden Unterseiten ihrer Blätter nach außen drehen.
Neulich habe ich mal wieder in den wunderbaren „Metamorphosen“ des römischen Dichters Ovid gelesen – und zwar die Geschichte von Philemon und Baucis. Natürlich nicht im Original auf Latein, obwohl ich die alte Schulbuch-Ausgabe noch habe – wie die passende Übersetzung auf Deutsch. Die war in der vordigitalen Zeit so etwas wie eine analoge Schummel-Software für Klassenarbeiten.
Das Ehepaar lebte in einer armseligen Hütte am Rande einer Stadt. Zwei Wanderer klopften an. In der ganzen Stadt waren sie abgewiesen worden, nur Philemon und Baucis baten sie herein. Bald, man ahnt es, stellte sich heraus, dass die komischen Wanderer als Menschen verkleidete Götter waren. Chef Jupiter persönlich, nebst Merkur, dem Götterboten. In der griechischen Mythologie heißen die übrigens Zeus und Hermes. Ich vermute, dass sich deshalb ein Paketdienst den Namen gab. Wahrscheinlich wusste man dort nicht, dass Hermes nicht nur eine Art Postbote der Götter war, sondern gleichzeitig auch als ziemlich unzuverlässiger Schwerenöter galt. Weswegen er auch der Schutzheilige der Diebe war.
Jupiter bzw. Zeus bestellte ein Hochwasser, das Stadt und Menschen verschlang. Außer Philemon und Baucis natürlich. Ihren einzigen Wunsch erfüllten die Götter auch: Philemon und Baucis wollten nicht, dass einer vor dem anderen ginge. Als sie, hochbetagt, in der Abendsonne auf einer Bank vor dem Tempel saßen, der mal ihre Hütte gewesen war, kam der Tod. Aus Philemon wurde eine Eiche, aus Baucis eine Linde. Meine Frau Anke war sichtlich gerührt, als ich ihr die Geschichte vorgelesen hatte. Weil ich sie von dem ewigen Liebespaar im klassischen Versmaß, dem Hexameter, deklamiert hatte?
Haben Bäume eine Seele?
In der Antike glaubten die Menschen, dass die Bäume eine Seele hätten – heute wohl auch wieder viele. Vielleicht gehen sie deshalb hinaus zu einem sogenannten Waldbad. Und umarmen die Bäume. Ich glaube, dass aus Philemon eine Zerr-Eiche wurde und aus Baucis eine Silberlinde. Denn die beiden lebten der Sage nach im antiken Phrygien. Das war ungefähr da, wo heute die türkische Hauptstadt Ankara liegt. Weswegen ich annehme, dass es sich bei der Eiche um die dort heimische Quercus cerris handelte.
Bei uns auch als Türkische Eiche bekannt. Weil sie besonders gut Hitze und Trockenheit trotzt, zudem winterhart und kaum anfällig für Krankheiten ist – ein prima Klimawandel-Gehölz. Kein Geschenk der Götter, sondern wissenschaftlich bewiesen, wie wohl die Umweltaktivistin Greta Thunberg sagen würde. Geeignet, das böse CO2 mittels Fotosynthese – also mithilfe von Sonnenlicht und Wasser – in Sauerstoff umzuwandeln.
Die Silberlinde (Tilia tomentosa), zu der Baucis wurde, ist auch eine Zuwanderin aus der heutigen Türkei. Bei uns seit dem 19. Jahrhundert ansässig in Parks und an Alleen. Weil sie oft zu Ehren der Herrschenden gepflanzt wurde, hieß sie auch Kaiserlinde. Kaiser Wilhelm war es dabei egal, ob es sich um die heimische Sommerlinde (Tilia platyphyllos) oder um die neue aus dem Orient handelte. Hauptsache, Linde.
„Der Baum entschleunigt sich“
Silberlinden haben sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um Hitze und Trockenheit wie in den sogenannten Jahrhundertsommern von 2003 und 2018 auszutricksen. Wenn es ihnen nämlich zu heiß wird, klappen sie einfach die silbrig glänzenden Unterseiten ihrer Blätter nach außen. Sie reflektieren damit das Sonnenlicht – und machen es im Prinzip wie wir Menschen, wenn wir an heißen Tagen frühmorgens die Jalousien runterlassen und die Lamellen nach außen drehen.
Auch die reflektieren das Sonnenlicht und verhindern, dass sich die Räume unnötig aufheizen. Im Schatten der Linden ist es auch merklich kühler. Kann bis zu zehn Grad weniger bedeuten als andernorts – ebenfalls im Schatten. In unserem kleinen Mühlenpark im Wendland gibt es keine Silberlinde. Von dem Jalousien-Effekt habe ich erst jetzt gehört. Zu spät, ein geeignetes Plätzchen hätten wir auch kaum noch.
Den Jalousien-Trick haben sich die Silberlinden aber auch nicht ausgedacht, damit wir Menschen uns in ihrem Schatten wohlfühlen können. Weil die Sonnenstrahlen reflektiert werden, reduziert der Baum auch die Fotosynthese. Denn um aus CO2 Sauerstoff und Zucker zu produzieren, braucht der Baum auch Wasser – was entweder nicht existiert oder wegen der Hitze nicht schnell genug aus den Wurzeln in die Blätter transportiert werden kann. Den Silberlinden-Trick beherrschen auch die Silberweide und die Silberpappel.
Die verlangsamte Fotosynthese erklärt die bekannte Garten-Expertin Gabriella Pape auch so: „Der Baum entschleunigt sich.“ Eigentlich das, was auch wir Menschen bei großer Hitze täten. Nur hätten wir keine angeborenen Möglichkeiten, die Sonne zu reflektieren. Die 59-Jährige leitet in Berlin die Königliche Gartenakademie. Die gebürtige Hamburgerin hatte erst in der renommierten Hamburger Baumschule von Ehren das Gärtnerhandwerk erlernt, bevor sie in England ihr Diplom für Landschaftsarchitektur machte.
Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth