Rundschau-Besuch im größten Kleingarten Deutschlands am Rande Lüneburgs
Lüneburg. Als er den großen Becher mit dem heißen Kaffee auf den Gartentisch stellt, klingelt sein Handy. "Rechtsanwalt Sascha Rhein hier, schönen guten Tag!" Der Klient am Telefon bringt den 41-Jährigen aus Adendorf nicht aus der Ruhe. "Ja, hab ich abgeschickt. Als Einwurfeinschreiben." Der Jurist mit dem Zopf sitzt in der Sonne, mitten in seinem Entspannungszentrum, einem Kleingarten bei Lüneburg. Rhein ist hier, so oft er kann, auch unter der Woche. Es gibt viel zu tun.
Zum Beispiel Löcher buddeln. Eigentlich fällt das als Mann in seinen Aufgabenbereich. Jetzt aber schaut er zu, wie seine Frau Tina, 32, und deren Schwester mitten auf dem Rasen die Spaten in die Erde treten. Opas Weihnachtsgeschenk wird eingepflanzt, ein Apfelbaum.
"Mach du mal weiter, Sascha." Das Loch muss tiefer werden. Rhein greift wortlos zum Spaten und drückt ihn kraftvoll in den festen, feuchten Boden. Tief am flachen Spatenblatt sammelt sich Wasser. "Ist das schon Grundwasser?", fragt Opa von hinten. "Das ist Grundwasser", sagt Rhein. Tochter Lea, 6, und Sohn Bastian, 10, haben bemerkt, dass etwas Spannendes passiert und wollen helfen. Ihre Cousine Hellen hält den Baum in das Loch. "Nicht tief genug", bemerkt die Zwölfjährige trocken.
Für Kinder ist der Kleingarten der Rheins ein Paradies. Um die Holzlaube erstreckt sich eine Mischung aus Reiterhof, Abenteuerspielplatz und Streichelzoo. Fünf Pferde mit Weiden, Stall, Scheunen und Reitplatz mit Hindernissen, Klettergerüste, Plastikrutschen, ein großer Sandhaufen, zehn Kaninchen und drei Meerschweinchen in einem Gehege, daneben zwei Ziegen. Und überall Beete, Bäume, Übertöpfe.
Ein Wimmelbuch in echt.
Moment mal - Kleingarten? Jawohl! 19 900 Quadratmeter "und ein paar Zerquetschte", genau weiß Sascha - in der Kolonie ist man schnell beim Du - das nicht. Zwei Hektar, sagt er immer. Das sei einfacher. Und wer den Vergleich zu Fußballfeldern nicht scheut - fast drei sind es. Nach Fifa-Standard. Seit 1980 zählt das Grundstück, ehemaliges Grabeland, zur Kolonie "Gartenfreunde Moorfeld e.V.". Die damals geplante Aufteilung in Parzellen wurde wohl irgendwie vergessen. Vor elf Jahren pachteten Sascha und Tina den größten Kleingarten Deutschlands. Zumindest haben sie selbst nach ausgedehnten Telefonrecherchen noch von keinem größeren erfahren.
Mit einem Laubenpieper aber haben die beiden etwa so viel gemeinsam wie Erdbeeren mit Gewürzgurken. Jung, locker, extrem entspannt. Gartenzwerge? Fehlanzeige! Niemand würde ahnen, dass der sympathische Mann mit der schwarzen Daunenweste und den langen Haaren selbstständiger Anwalt und nebenbei seit vier Jahren erster Vereinsvorsitzender der "Gartenfreunde" ist. Das Bundeskleingartengesetz kennt er inzwischen fast auswendig. Mittlerweile ist er die Rechtsvertretung für alle Lüneburger Kleingartenvereine.
"Viele Vereinsvorstände glauben, je ein Drittel der Fläche müsse zur Erholung, für Blumen und für Obst und Gemüse genutzt werden", erzählt Sascha. "Alles Auslegungssache." Er mag keine Kolonien, in denen man den eigenen Garten nur noch an der Nummer erkennt. In Zeiten, in denen Gemüse bei Lidl oder Aldi billiger zu haben ist, sei die wirtschaftliche Nutzung für viele zu teuer: "Ich bin schon froh, wenn jemand nur ein paar Erdbeeren anbaut oder einen Apfelbaum hat." Auch die gigantische Größe seines Kleingartens kollidiert nicht wirklich mit dem Gesetz. Zwar sind Kleingärten in der Regel nicht größer als 400 Quadratmeter. Aber auch in diesem Fall liegt die Betonung eben auf "in der Regel".
Bei den "Gartenfreunden Moorfeld" stört das ohnehin niemanden. Sascha Rhein geht es wie allen hier ums Miteinander, um Erholung, um Hilfsbereitschaft. Im Kleingartenverein klappe es mit der Gemeinschaft noch oft, sagt er. Und: "Es gibt immer jemanden, der irgendwas kann." Zum Glück, denn er selbst sieht sich mit vergleichsweise überschaubarem handwerklichen Geschick gesegnet.
Tinas Schwester lacht, als sie zu Teddy, einem der Pferde, schaut. "Das ist wie bei Pippi Langstrumpf hier." Der rotbraune Teddy steht am Schuppen und versucht, hinter der offenen Tür heimlich Futter zu klauen. Lilly, die betagte kanadische Schäferhündin, scheucht sie kläffend weg.
Tina und ihre Schwester drücken die frische Erde um den gerade gepflanzten Baum fest. Die Kinder sind schon wieder weg, spielen ganz hinten im Garten. Hellen schnappt sich "ihren" Teddy und reitet ein paar Runden über die Hindernisse.
Die Kinder bringen oft Freunde her, erzählt Sascha. "Ich sage dann immer, der Älteste darf bestimmen." Er lacht und fügt hinzu: "Viele, die das noch nicht kennen, machen dann im ersten Moment große Augen. Aber das klappt wunderbar." In seinen Augen fördert das Verantwortung. Und es sorgt für deutlich mehr Ruhe.
Davon gibt es hier ohnehin reichlich. Zumindest, wenn man großzügig über das Rauschen des Verkehrs der B 4/B 209 hinweghört. Sie führt am Rand des Grundstücks entlang, hinter einer langgezogenen Baumreihe. Sascha Rhein sieht das pragmatisch: "Wir alle wollen ja schnell irgendwohin, und irgendwo müssen die Straßen ja sein." Der Entspannung tut das für ihn keinen Abbruch. "Wir hören das schon gar nicht mehr." Die Diskussion um den möglichen Ausbau der Straße zur A 39 verfolgen die Rheins übrigens mit derselben Gelassenheit.
Dass einer aus der Familie jeden Morgen um fünf Uhr Stalldienst hat, egal ob die Sonne scheint, ob es stürmt oder schneit, dass Laube, Pflanzen und Tiere Geld und Zeit für den Urlaub schlucken - all das ist es den Rheins wert. "Das klingt vielleicht komisch", versucht es Tina zu erklären, während sie einen Ring aus Steinen um den neuen Apfelbaum mitten im Garten legt: "Aber dieses Geerdet-Sein ist unheimlich schön."