Seattle/Bordeaux. Die Zahl weltweiter Demenzfälle könnte sich nach einer neuen Studie bis 2050 verdreifachen. Was die Forscher für Deutschland erwarten.
- Eine nternationale Studie sieht Demenz mit Blick auf die wachsende und alternde Bevölkerung auf dem Vormarsch
- 2050 könnten demnach weltweit rund 153 Millionen Menschen mit Demenz leben
- Gegensteuern wollen Experten mit Bildungsangeboten sowie Maßnahmen gegen Fettleibigkeit, hohen Blutzucker und Rauchen
Betroffene sind im Alltag zerstreuter. Die Vergesslichkeit nimmt zu. Den Alltag ohne Hilfe zu stemmen, wird mit zunehmender Erkrankung immer schwieriger. Demenz schreitet fort – mal schneller, mal langsamer. Umkehrbar ist der geistige Abbau noch nicht. Allein in Deutschland waren 2019 knapp 1,7 Millionen Erkrankte betroffen. Weltweit sind es knapp 60 Millionen – und die Fallzahlen werden drastisch steigen, sagt eine neue Gesundheitsstudie voraus, die in der Fachzeitschrift „The Lancet Public Health“ veröffentlicht wurde
Darin sagen die Forschenden voraus, dass sich in den kommenden drei Jahrzehnten die Zahl weltweiter Demenzfälle fast verdreifachen könnte. Im Jahr 2050 könnten demnach rund 153 Millionen Menschen mit Demenz leben – gegenüber 57 Millionen im Jahr 2019.
Wichtigste Treiber der vorausgesagten Entwicklung seien in erster Linie die weltweit wachsende und alternde Bevölkerung. Dabei werden je nach Region deutliche Unterschiede erwartet: Während Japan laut der Untersuchung die geringsten Zuwachsraten verzeichnen werde, erwarten die Wissenschaftler unter anderem in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten einen besonders hohen Anstieg. Für Deutschland sagen die Forschenden einen Zuwachs um rund zwei Drittel (65 Prozent) voraus – was noch unter dem errechneten westeuropäischen Durchschnitt liegen würde.
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Steigende Lebenserwartung begünstigt Krankheiten wie Demenz
Schon im vergangenen Jahr hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davor gewarnt, dass die Zahl der Demenzkranken in den kommenden zehn Jahren global rasant zunehmen werde. Einer der Hauptgründe dafür sei die steigende Lebenserwartung: Mit dem Alter erhöht sich das Risiko für nichtübertragbare Krankheiten und damit auch für Demenz.
Dieser Oberbegriff beschreibt das Symptombild einer ganzen Reihe von meist fortschreitenden Krankheiten, welche die Leistungsfähigkeit des Gehirns beeinflussen - zu den häufigsten und bekanntesten gehört die Alzheimer-Demenz. Nach Angaben der WHO ist Demenz derzeit die siebthäufigste Todesursache weltweit und eine der Hauptursachen für Behinderungen und Pflegebedürftigkeit bei älteren Menschen. Die globalen Kosten werden für 2019 auf mehr als eine Billion US-Dollar geschätzt.
Verdreifachung der Fälle bis 2050 erwartet
Umso alarmierender erscheinen nun die Vorhersagen, welche ein Team internationaler Wissenschaftler für die regelmäßig erscheinende „Global Burden of Disease“-Studie modelliert hat.
Konkret erstellten die Forscher Schätzungen der Demenzprävalenz für 195 Länder und Territorien im Zeitraum von 2019 bis 2050 und bezogen dabei verschiedene Demenz-Risikofaktoren ein. Vor allem Bevölkerungswachstum und -alterung führten dazu, dass bis 2050 voraussichtlich 153 Millionen Menschen weltweit mit Demenz leben, was fast einer Verdreifachung der Fälle im Vergleich zu 2019 darstellt.
Den größten Anstieg der Prävalenz prognostiziert die Studie für den östlichen Subsahara-Raum, wo die Zahl der Demenzkranken im Alter von 40 Jahren und älter um über 350 Prozent ansteigen werde. Um fast 370 Prozent steigende Fallzahlen werden für Nordafrika und den Nahen Osten vorhergesagt, wobei besonders hohe Steigerungsraten in Katar (1926 Prozent) und den Vereinigten Arabischen Emiraten (1795 Prozent) zu erwarten seien.
Der geringste Anstieg wird für den einkommensstarken asiatisch-pazifischen Raum prognostiziert, wo die Zahl der Fälle um 53 Prozent auf 7,4 Millionen 2050 steigen soll - mit einem besonders geringen Zuwachs in Japan (27 Prozent).
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Deutschland: Anstieg der Demenzfälle um zwei Drittel erwartet
Für Westeuropa erwarten die Studienautoren einen Anstieg der Fälle um 74 Prozent, von fast 8 Millionen 2019 auf knapp 14 Millionen 2050. Niedrigere Anstiegsraten seien hier für Griechenland (45 Prozent), Italien (56 Prozent), Finnland (58 Prozent) und Schweden (62 Prozent) zu erwarten, auch Deutschland liege mit 65 Prozent (von knapp 1,7 Millionen Erkrankten 2019 auf knapp 2,8 Millionen 2050) noch unter dem prognostizierten durchschnittlichen Zuwachs Westeuropas.
Überdurchschnittlich hoch werde dieser unter anderem in Zypern (175 Prozent), Andorra (172 Prozent) und Irland (164 Prozent) ausfallen.
Mit Blick auf die Auswirkungen von vier Demenz-Risikofaktoren – Rauchen, Fettleibigkeit, hoher Blutzucker und niedrige Bildung – prognostizieren die Studienautoren, dass ein verbesserter Zugang zu Bildung für sechs Millionen weniger Demenzfälle sorgen könnte.
Dem stünden allerdings knapp sieben Millionen mehr Fälle gegenüber, die mit den prognostizierten Raten für Fettleibigkeit, hohen Blutzucker und Rauchen zusammenhingen.
Weltweiter Zuwachs an Demenz: Was lässt sich dagegen tun?
Umso wichtiger seien Präventionsmaßnahmen, welche den Einfluss dieser Risikofaktoren minimierten, betont Epidemiologin und Hauptautorin Emma Nichols vom Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der Universität Washington. „Für die meisten Länder bedeutet dies die Ausweitung von lokal angepassten, kostengünstigen Programmen, die eine gesündere Ernährung, mehr Bewegung, die Aufgabe des Rauchens und einen besseren Zugang zu Bildung fördern.“
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Tatsächlich hatte der im vergangenen Jahr veröffentlichte Bericht der „Lancet“-Kommission nahegelegt, dass bis zu 40 Prozent der Demenzfälle verhindert oder hinausgezögert werden könnten, wenn zwölf bekannte Risikofaktoren beseitigt würden. Neben den in der aktuellen Studie berücksichtigten gehörten Bluthochdruck, Hörminderung, Depression, Bewegungsmangel, Diabetes, soziale Isolation, übermäßiger Alkoholkonsum, Kopfverletzungen und Luftverschmutzung dazu.
Kritiker werfen Studienautoren „apokalyptische Prognosen“ vor
Die Wissenschaftler räumen indes selbst ein, dass ihre Analyse durch einen Mangel an qualitativ hochwertigen Daten aus einigen Teilen der Welt beeinträchtigt werde und nur vier Demenz-Risikofaktoren berücksichtigt worden seien.
Darüber hinaus untersuche die Studie die Gesamtprävalenz von Demenz, ohne zwischen verschiedenen klinischen Subtypen zu unterscheiden – eine Kritik, die auch Michaël Schwarzinger und Carole Dufouil vom Universitätskrankenhaus Bordeaux in einem unabhängigen Kommentar aufgreifen: Die zugrundeliegenden Mechanismen, welche eine Demenz verursachen, würden hier vereinfacht.
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„Aus einer Public-Health-Perspektive sind die Ergebnisse der Studie generell enttäuschend, da sie suggerieren, dass der Anstieg der Demenzfälle unaufhaltsam ist“, schreiben die beiden Mediziner. So würden in den „apokalyptischen Prognosen“ ratsame Änderungen des Lebensstils nicht mit einkalkuliert. Umso wichtiger sei es, über jene Mittel zu informieren, welche die „düsteren Prognosen“ verzögern oder vermeiden könnten.
(dpa/mahe)