Berlin. Die individuelle Krebstherapie macht Betroffenen Hoffnung. Ein Onkologe erklärt, wann der Tumor unbedingt analysiert werden sollte
Krebs entsteht, wenn sich im Körper Zellen durch Mutationen unkontrolliert vermehren. Warum dies genau passiert, lässt sich nicht immer sagen – meist gibt es Schäden am Erbgut oder Fehler beim Ablesen der Erbinformation der Zellen. Bei etwa 40 Prozent aller Neuerkrankungen wird dieser Vorgang durch beeinflussbare Faktoren mitverursacht – zum Beispiel ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, regelmäßiger Alkohol- oder Tabakkonsum. Aber auch Umwelteinflüsse, Krankheitserreger und die erbliche Veranlagung spielen eine Rolle.
In der Forschung weiß man heute: So individuell wie jeder Patient und jede Patientin sind die biologischen Eigenschaften ihrer Tumore. Deren Genetik unterscheidet sich nicht nur von Krebsart zu Krebsart, sondern von Person zu Person.
Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Durchbruch in der Tumortherapie und ermöglicht es Ärztinnen und Ärzten, Erkrankten individualisierte Behandlungen anzubieten. Die Rede ist von Präzisionsonkologie. Ein Experte auf dem Gebiet ist Ulrich Keilholz, Direktor eines der sogenannten Exzellenz-Krebszentren in Deutschland, dem Charité Comprehensive Cancer Center in Berlin.
Was unterscheidet die Präzisionsonkologie von der herkömmlichen klassischen Onkologie?
Ulrich Keilholz: In der klassischen Onkologie gibt es etablierte und oft sehr wirksame Standards wie Operationen, bei denen das Tumorgewebe entfernt wird, Strahlen- und Chemotherapie. Bei der Behandlung wird insbesondere auf die Krebsart, Lage und Stadium geschaut. ei der Präzisionsonkologie dagegen werden die Patientinnen und Patienten ganz individuell nach den Erkenntnissen therapiert, die man durch die genaue molekulare Analyse der Tumorzellen in ihrem Körper erhält und die spezifischen genetischen Veränderungen.
Momentan sind dafür etwa 50 Medikamente zugelassen …
… und das ist ziemlich viel. Sogenannte monoklonale Antikörper spielen hier eine wichtige Rolle. Das sind Wirkstoffe, die an die Rezeptoren der Krebszellen, also den Bindungsstellen für Botenstoffe, andocken und sie blockieren. So kann etwa verhindert werden, dass sich die Zellen weiter teilen. Gleichzeitig markieren sie die Zelle für das körpereigene Immunsystem. Andere Wirkstoffe hemmen zum Beispiel die Signalwege innerhalb der Zelle oder die Rezeptoren außerhalb. Bei schwarzem Hautkrebs konnte der individuelle Ansatz die Zwei-Jahres-Überlebensrate von unter fünf auf über 60 Prozent steigern.
Dürfen dank Präzisionsonkologie Schwererkrankte also hoffen?
Nicht unbedingt auf Heilung, aber auf ein langes beschwerdearmes Leben mit dem Krebs, wenn ein molekularer Therapieansatz gefunden wird.
Könnten individuelle Tests und moderne Behandlungsmethoden die etablierte Strahlen- und Chemotherapie irgendwann ersetzen?
Viele Primärtumore lassen sich zum Glück chirurgisch oder durch Strahlentherapie vollständig entfernen. Diese brauchen wir gar nicht zu testen. Hier ist der etablierte auch der bessere Weg. Bei Lungenkrebs mit bestimmten Mutationen dagegen wissen wir heute, dass eine Chemotherapie gar nicht effektiv ist. Hier ist die individuelle Diagnostik und molekulare Therapie wirksamer, verträglicher, insgesamt kostengünstiger und daher auch schon neuer Standard.
Bei wie vielen Krebskranken wird die Diagnostik bereits gemacht?
Bei Primärtumoren sind es aktuell etwa zehn Prozent der Betroffenen. Bei etwa 30 bis 50 Prozent der Patientinnen und Patienten, die eine molekulare Analyse durchführen lassen, werden genomische Veränderungen gefunden, gegen die spezielle Therapien verfügbar sind.
Wann sollten Patienten eine molekulare Analyse ihres Tumors aktiv einfordern?
Bei Darm-, Haut-, Lungen- oder etwa auch Brustkrebs mit Metastasen sollten sie das unbedingt machen. Hier sind komplexe Analysen sinnvoll. Daher gibt es auch immer mehr Synergien zwischen spezialisierten Krebszentren und onkologischen Praxen. Bei anderen Krebsarten wie dem Pankreaskarzinom (Bauspeicheldrüse, Anm. d. Redaktion) dagegen führt eine solche Diagnostik fast nie zu etwas. Aktuell entstehen große Datenbanken, um bald leichter und flächendeckender Empfehlungen abgeben zu können. Noch wissen wir auch nicht genau, in welchen Fällen eine molekulare Analyse mitunter mehrfach gemacht werden sollte – etwa weil die Zellen weiter mutieren wie beim Darm- oder Lungenkrebs.
Die Immuntherapie ist ein weiteres wichtiges Feld der Krebsforschung. Spielt diese auch bei der Präzisionsonkologie eine Rolle?
Wie man die gezielte molekulare Therapie und die Immuntherapie zusammenbekommt, dafür entwickeln wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade eine Strategie. Was die neuen Erkenntnisse der Präzisionsonkologie für die Weiterentwicklung der Immuntherapie, zu der ja auch die Krebsimpfung zählt, bedeuten, ist eine der Fragen, die wir auch beim Kongress der European Society of Medical Oncology ab Donnerstag diskutieren.
Welche Erfolge konnten hier bereits verzeichnet werden?
Dass Moleküle auf der Oberfläche der Krebszellen diese vor den Immunattacken des Körpers der Erkrankten schützen, war eine entscheidende Entdeckung. Sie sagen dem Immunsystem quasi: „Hey, ich gehöre zu dir. Bring mich nicht um.“ Hier konnten nun Hemmstoffe entwickelt werden, dank derer bereits eine Reihe von Krebserkrankungen mit Immuntherapie behandelt werden kann.
Welche sind das?
Dazu gehören viele Krebsarten, die durch äußere Einflüsse entstanden sind und daher viele Mutationen angehäuft haben – etwa schwarzer Hautkrebs durch UV-Strahlung, Magenkrebs durch Viren oder Lebensmittel sowie Lungenkrebs bei Rauchern. Nicht dazu zählen Tumore im Kindesalter, da diese nur wenige Mutationen haben. Durch eine molekulare Analyse können wir als Präzisionsonkologen im Vorfeld der Behandlung prüfen, wie hoch die Mutationslast des Tumors ist. Je höher, desto besser schlägt die Therapie mit entsprechenden Hemmstoffen an.
Dennoch ist eine Immuntherapie nicht immer erfolgreich. Warum?
Aktuell versuchen wir herauszufinden, welchen Einfluss die Moleküle im umliegenden Tumorgewebe haben, denn auch diese schützen den Tumor – etwa indem sie verhindern, dass sich dort überhaupt erst Immunzellen ansiedeln. Wir erforschen unter anderem, wie wir diese Moleküle durch Medikamente beeinflussen und so die Effekte der Immuntherapie verstärken können.