Berlin. Seit der Jahrtausendwende hat sich ein Supermama-Mythos entwickelt, sagt Wissenschaftlerin Margrit Stamm. Das schade Frauen und Kindern.

Seit der Jahrtausendwende hat sich ein „Supermama-Mythos“ entwickelt, eine „Glorifizierung des Mütterlichen“, sagt die renommierte Psychologie- und Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm (70) aus Aarau. Der Mythos schade Frauen, Kindern und Familien, so Stamm in ihrem neuen Buch „Du musst nicht perfekt sein, Mama“.

Im Interview spricht die emeritierte Professorin über Druck und Kontrollwahn bei Müttern – und einen möglichen Weg zu mehr Gleichstellung.

Frau Stamm, wie ist er entstanden, der Supermama-Mythos?

Margrit Stamm: Der Neoliberalismus spielt dabei eine wichtige Rolle. In den 1990er-Jahren hat man den Menschen eine zunehmende Selbstverantwortung zugeschrieben. Das Motto lautete: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Das galt für den Beruf und die Familie. Den Müttern hat man dabei gesagt: Wenn du ein gutes Selbstmanagement hast, kannst du beides unter einen Hut bringen, Familie und Job. Du kannst alles haben, alles werden oder sein. Der Anspruch, dass Frauen dabei perfekte Mütter sein müssen, ist geblieben.

Sie sind selbst Mutter zweier Kinder. Sie haben ihr erstes Kind in den 1980ern bekommen. Was war damals anders?

Stamm: Der Großteil der jungen Frauen hat die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt. Sie haben der Familie und dem Mann den Rücken frei gehalten. Gleichzeitig gab es ein anderes Erziehungsideal. Wir Frauen hatten die Aufgabe, die Kinder möglichst frei aufwachsen zu lassen. Die Freiheit und das Wohlbefinden, das waren die Ziele. Dabei durften wir intuitiv erziehen und auch das Bauchgefühl walten lassen. Das hat Mütter entlastet. Auch wenn sie manchmal nicht bemerkt haben, dass sie die Kinder mit diesem Erziehungsideal auch überfordert haben.

Wie ist das heute?

Stamm: Es gibt zwei Bewegungen: Zum einen sagt die Politik, dass die Gesellschaft das Humankapital der Frauen braucht. Wenn sie gut ausgebildet sind, müssten sie Teil des Arbeitsprozesses sein. Damit wird impliziert, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Frage des Managements ist. Und vielleicht noch eine Frage der staatlichen Unterstützung in Form von Kita-Plätzen. Dass das Mutterbild aber überaus reich an Anforderungen ist, davon spricht man nicht.

Druck, Stress, schlechtes Gewissen: Mütter sind immer am Rotieren, sagt Wissenschaftlerin Margrit Stamm – und fordert ein Ende des Supermama-Mythos.
Druck, Stress, schlechtes Gewissen: Mütter sind immer am Rotieren, sagt Wissenschaftlerin Margrit Stamm – und fordert ein Ende des Supermama-Mythos. © Shutterstock/Yuganov Konstantin | Yuganov Konstantin

Und die zweite Bewegung?

Stamm: Die Gesellschaft verlangt, dass die Mutter, auch wenn sie berufstätig ist, die wichtigste Bezugsperson fürs Kind sein muss. Sie muss ihre Kinder konstant betreuen und beobachten. Sie muss spüren, wo das Kind Talente oder Defizite hat, um dann entweder zu fördern oder zu therapieren. Das suggeriert ihr das gesamte Umfeld – die Mütter und Schwiegermütter, Erziehungsratgeber, Elternberater und auch die Bindungs- oder Hirnforschung. Es geht um eine Dauerförderung, bei der die Mutter immer fürsorglich bleiben muss. Sie muss stets lächeln und darf nie die Nerven verlieren.

Das klingt nicht gerade nach einem modernen Frauenbild.

Stamm: Das Mutterbild ist in den 60er- und 70er-Jahren stecken geblieben. Das ist schon erstaunlich angesichts der umfassenden Emanzipationsbewegungen der letzten Jahre. Früher mussten Frauen den besten Sonntagsbraten in den Ofen schieben oder die Fußböden polieren, um eine gute Hausfrau und Mutter zu sein. Heute sind die Standards andere. Und sie sind so hoch, dass sogar eine Vollzeitmutter, die aus dem Beruf aussteigt, um sich um die Familie zu kümmern, diese nicht erreichen kann.

Was hat das für Folgen?

Stamm: Druck, Stress, schlechtes Gewissen. Mütter sind immer am Rotieren. Sie beobachten sich und andere und gelangen in einen Teufelskreis. Nicht umsonst gibt es bei Müttern eine derart hohe Quote von Burnout.

Kurze Zwischenfrage – wo sind in ihrer Betrachtung eigentlich die Väter?

Stamm: Ich habe mich in meiner Forschung auch mit Vätern beschäftigt. Über ihre Rolle habe ich auch ein Buch geschrieben. Der Vater ist wichtiger geworden, keine Frage. Man verlangt viel von ihm und Väter wollen ja auch viel geben. Mit den Vätern aber ist die Gesellschaft nicht so streng. Die Mutter steht im Fokus. Und das führt dazu, dass viele Mütter selbst überzeugt sind, sie seien die besseren Erzieherinnen. Viele glauben, dass Väter das nicht so gut können.

Sie schreiben, dass Kinder heute oftmals geschliffen werden wie Diamanten. Sie finden das problematisch. Warum?

Stamm: Kinder, die so mit Beobachtung, Emotionen und Kontrolle zugedeckt werden, können nicht selbstständig werden. Sie können nicht ihre Identität entwickeln. Das Schwierigste aber ist, dass sie von der Mutter oder den Eltern abhängig bleiben. Wir sehen, dass heute 20-Jährige am ersten Uni-Tag vermehrt mit den Müttern kommen. Und die stellen dann die Fragen, nicht die Studierenden.

Wie lässt sich die Situation verändern?

Stamm: Es reicht jedenfalls nicht, mit Freundinnen mal in ein Wellness-Wochenende zu fahren. Wir brauchen eine gesellschaftliche, familienpolitische Diskussion über das überdimensionierte Mutterbild. Wir müssen erkennen, dass hinter dem Mutterbild eine Ideologie steckt, die weder Müttern noch Vätern oder Kindern guttut. Man müsste diskutieren, dass es keine weibliche Maximalrolle braucht. In der Folge wäre vielleicht eine gesündere Familienstruktur erreichbar. Deutschland hat mit der Elternzeit eine gute Voraussetzung. Wenn das Mutterbild hinterfragt würde, könnte dies zu echten Veränderungen der Rollen führen.

Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften.
Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften. © Raffael Waldner

Was empfehlen Sie Müttern?

Stamm: Ich bin selbst Mutter, ich kenne den Hang zum Intensivsein. Und ich kenne die Tendenz, Partnern die Juniorrolle zuzuweisen. Wenn man etwas verändern will, muss man bereit sein, selbstkritisch in den Spiegel zu schauen. Man muss sich als Paar zusammensetzen und einen kritischen Blick auf die Standards der Erziehung werfen. Es geht nicht darum, alles radikal zu verändern. Aber vielleicht einigt man sich darauf, was die Mutter einbringen will und was der Vater. Ich meine damit nicht, dass wir die Kinder weniger lieben oder weniger fürsorglich mit ihnen sein sollen. Man sollte aber Kindern nicht alle Liebe und Kontrolle aufdrängen, das brauchen sie nicht.

Sie halten Fremdbetreuung für eine gute Sache, warum?

Stamm: Kinder können sich sehr gut an unterschiedliche Erziehungsnormen anpassen, ob bei Oma oder Opa oder in der Kita. Das schadet ihnen nicht. Mütter haben oft ein Problem damit, weil sie aufgrund des Supermama-Mythos auch die Verantwortung für die Fremdbetreuung übernehmen. Deswegen kontrollieren sie dann alles, die Nanny oder die Kita. Und sie machen den Betreuern viele Vorschriften. Man hört ja, dass Kitas sogar Kameras installieren, damit Mütter vom Arbeitsplatz aus sehen können, ob das Kind wirklich das fleischlose Menü zu essen bekommt.

Das klingt schräg.

Stamm: Wir sehen, dass viele Mütter sich mit ihren Kontrollstrategien unglaublich viel Stress machen. Sie müssten lernen, das Kind abzugeben und Vertrauen in andere Betreuungspersonen zu entwickeln. Da bräuchte es mehr Lockerheit. Und man müsste die Autonomie der Betreuungspersonen respektieren. Wenn etwas wirklich schiefläuft, muss man natürlich reagieren.

Was sagen Sie Frauen, die Mutter werden wollen?

Stamm: Es gibt sehr viele Ratgeber, die Schwangere darüber informieren, wie man sich ernähren soll oder welche Utensilien Eltern fürs Kind einkaufen müssen. Es wird aber eigentlich nie darüber gesprochen, was eine künftige Mutter erwartet. Viele Paare schlittern in die Elternschaft. Sie sagen, wir lieben uns, wird schon gut gehen. Sie machen sich keine realistischen Gedanken. Bei der Vorbereitung auf das Muttersein müssten mehr psychologische Aspekte berücksichtig werden.

Sie haben festgestellt, dass es viel Angst bei den Frauen von heute gibt.

Stamm: Viele Frauen haben tatsächlich Angst, Mutter zu werden. Sie wollen es, sie fürchten sich aber auch. Weil sie den Perfektionsdruck spüren. Würden sie sich früher intellektuell und emotional damit auseinandersetzen, wäre das sehr wichtig. Darüber hinaus sollte man aus meiner Sicht mehr über die Veränderungen sprechen, die mit einem Kind eintreten. Dass man neue Verantwortlichkeiten übernimmt und auch eine neue Tagesstruktur bekommt. Wenn man so etwas diskutiert, kann man sich doch trotzdem aufs Kind freuen, vielleicht sogar noch mehr.