Berlin. Rapper Kanye West leidet an einer bipolaren Störung. Was bedeutet die Diagnose? Und warum werden viele bipolare Menschen stigmatisiert?
- Kanye West hat eine diagnostizierte bipolare Störung
- Der Rapper kandidiert für das Amt des US-Präsidenten
- Er befindet sich momentan in einer akuten manischen Phase, behauptet seine Ehefrau Kim Kardashian
- Wests Auftritte wurden zuletzt als „bizarr“ kritisiert
- Was verbirgt sich hinter der Diagnose bipolare Störung? Wie entsteht die Erkrankung und wie wird sie diagnostiziert?
Für die Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur wählte Kanye West einen symbolträchtiges Datum: Den amerikanischen Unabhängigkeitstag. Und entgegen der Meinung vieler, die seine Verlautbarung am 4. Juli für einen Scherz hielten, scheint es dem amerikanischen Rapper sehr ernst zu sein.
Seit Wochen nun schon berichten Medien weltweit aber nicht nur über seine politischen Ambitionen, sondern regelmäßig auch von „irren Tweets“ und „bizarren Auftritten“. Zum Beispiel von einer Wahlkampfveranstaltung, bei der West tränenreich erzählte, dass er und Ehefrau Kim Kardashian darüber nachgedacht hätten, ihre erstgeborene Tochter North abzutreiben.
Dass der Künstler solch private Details in die Öffentlichkeit trägt, interpretieren viele als Ausdruck seiner exzentrischen Persönlichkeit. Nach Angaben seiner Ehefrau, die sich kürzlich mit einem ausführlichen Statement an die Öffentlichkeit gewandt hat, sind derartige Auftritte aber vor allem eins: Symptome einer akuten, manischen Phase, in der sich West befindet. Denn der Rapper hat eine diagnostizierte Bipolare Störung.
Symptome einer Bipolaren Störung: Stimmungs- und Antriebsschwankungen
„I hate being bipolar, it’s awesome“ (Ich hasse es, bipolar zu sein, es ist großartig) schrieb der Künstler bereits 2018 auf das Cover seines Albums „Ye“. Tatsächlich beschreibt dieser Satz recht präzise, was Betroffene durchleben: Extreme Stimmungsschwankungen. Heute euphorisch, morgen betrübt.
Rund ein bis drei Prozent der Deutschen leiden an einer manisch-depressiven oder bipolaren Störung, weiß Hans-Peter Unger, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie in der Asklepios-Klinik Hamburg-Harburg. Sie durchlaufen depressive und manische Phasen, die Monate andauern können.
Erstere können von Antriebsverlust, innerer Unruhe, Niedergeschlagenheit und Gefühllosigkeit bestimmt sein. Letztere zeichnen sich häufig dadurch aus, dass Erkrankte enorme Kraft und Energie verspüren, vor Ideen übersprudeln und extrem euphorisch sind. „Während manischer Phasen empfinden sich Patientinnen und Patienten selten als krank, sondern als unbesiegbar und großartig“, sagt Unger.
Bipolare Störung: Stimmungsschwankungen beeinträchtigen Alltag
Dass Edmund Bornheimer in den fünf Monaten, in denen er kaum Schlaf brauchte, dennoch durchweg fit war und zig Projekte realisierte, manisch sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn. „Es hat sich einfach gut angefühlt. Dass es mir zu gut gehen könnte, davon wollte ich in diesem Moment nichts wissen.“
Erst als er im Anschluss an seine Manie in eine tiefe Depression rutschte, ging er zu einem Arzt. Der diagnostiziert ihm eine Bipolare Störung. Bornheimer war damals bereits 41 Jahre alt.
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Die Stimmungsschwankungen bipolarer Menschen können so ausgeprägt sein, dass ein normaler Alltag nicht mehr möglich ist. Zusätzlich können auch Phasen auftreten, die sowohl von depressiven als auch manischen Krankheitssymptomen bestimmt sind – so genannte gemischte Phasen.
„Es gibt keine andere Erkrankung im psychiatrischen Gebiet, bei der die Verläufe so unterschiedlich sind“, sagt Unger.
Umzug oder Trennungen: Auslöser für eine Bipolare Störung
Niemand weiß bestimmt, warum manche Menschen bipolar werden und andere nicht. Vermutlich handelt es sich um eine Verzahnung biologischer und psychosozialer Faktoren: Genetische Gegebenheiten könnten ebenso von Bedeutung sein, wie Belastungsfaktoren, insbesondere Stress, so die DGBS.
Dennoch gibt es gerade für die erste Episode, sei sie manisch oder depressiv, oft einen Auslöser, so Unger. Dazu zählen einschneidende Lebensveränderungen, die nicht grundsätzlich negativ sein müssen. Zum Beispiel ein Umzug oder eine Pensionierung, aber auch eine Trennung oder der Tod eines nahen Angehörigen. Die Phase gewinne dann eine Eigendynamik und mache sich vom auslösenden Ereignis unabhängig.
Bei den meisten Patientinnen und Patienten tritt die Erkrankung erstmals im jugendlichen oder jungen Erwachsenenalter auf, weshalb Stimmungsveränderungen häufig als altersbedingte „Pubertätsschwankungen“ abgetan werden. Zwischen den einzelnen Episoden können außerdem Jahre liegen, was die Diagnose zusätzlich erschwert. Ebenso, dass Betroffene häufig keine Idee von dem haben, was mit ihnen passiert.
Bipolare Störung: Bis zur Diagnose vergehen bis zu zehn Jahre
Bis eine Bipolare Störung diagnostiziert wird, dauert es bisweilen zehn Jahre, so Unger. „Zu lange“, sagt Bornheimer. Denn Anzeichen für eine Bipolare Störung hätte es auch bei ihm lange vor seiner Diagnose gegeben. „Die Symptome wurden aber nicht als solche erkannt.“
Der Leidensdruck, dem Betroffene wie Verwandte vor und auch noch nach einer Diagnose ausgesetzt sind, ist enorm, sagt Barbara Wagenblast, die eine Selbsthilfegruppe für Verwandte Manisch-Depressiver moderiert. „Viele fühlen sich verantwortlich dafür, den Scherbenhaufen ihrer Angehörigen beseitigen und außerdem weitere Krisen zu verhindern. Gleichzeitig haben sie Angst davor, dass sich der Betroffene etwas antun könnte. Die Hilflosigkeit ist das Schlimmste.“
Denn während manischer Episoden fällt es Patientinnen und Patienten bisweilen schwer, Gefahren richtig einzuschätzen. Sie neigen dazu, unbedacht Geld auszugeben, verhalten sich ungehemmt und provozieren vereinzelt Konflikte und Streitereien. In einigen Fällen kann es selbst zu psychotischen Erscheinungen kommen, so die DGBS. Heißt: Betroffene verfallen in einen Größen-, Liebes- oder religiösen Wahn.
„Manische Phasen sind ein großer Stress für das Gehirn“, betont Unger. Zudem sähen sich Betroffene nach Abklingen der Manie häufig mit einem Berg aus Schulden oder zerbrochenen Beziehungen konfrontiert. Während schwerer depressiver Episoden wiederum entwickeln einige suizidale Gedanken. Nach Angaben des Universitätsklinikums Bonn versuchen 20 bis 25 Prozent aller Betroffenen, sich das Leben zu nehmen – 15 Prozent begehen Suizid.
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Bipolare Störung ist chronisch, aber händelbar
Dabei können eine rechtzeitige Diagnose, eine gezielte medikamentöse Behandlung und psychologische Betreuung den Krankheitsverlauf maßgeblich verbessern. „Obwohl im Rahmen einer Bipolaren Störung lebenslang Krankheitsphasen auftreten können, führen viele Betroffene ein ganz normales Leben“, sagt Unger.
Entscheidend sei die Phasenprophylaxe, die Entwicklung eines Krankheitsverständnisses – auch bei den Angehörigen – und Psychotherapie. Der Rückfallschutz wiederum beginne mit einer guten Akutbehandlung der Manie oder Depression. Dazu zähle, die Vorboten einer erneuten Krankheitsepisode zu erkennen. „Wenn ich über mehrere Tage weniger als sechs Stunden schlafe, weiß ich, da kündigt sich eine Manie an“, sagt Bornheimer. Er bemühe sich dann, die Reizeinwirkung zu reduzieren, indem er weniger nach Draußen gehe, entspannende Musik, statt Heavy Metal höre und nur kaufe, was er wirklich brauche.
Andere Vorzeichen manischer Episoden können vermehrter Rededrang und eine gesteigerte Kontaktbedürftigkeit sein. Stimmungsminderung und leichte Vergesslichkeit wiederum können eine Depression ankündigen.
Betroffene kämpfen gegen Stigmatisierung
Auch der Austausch Betroffener untereinander kann heilsam sein. Ebenso, Angehörige aktiv in die Behandlung einzubeziehen, so Unger. Doch die Angst vor Stigmatisierung überwiegt bei Patientinnen und Patienten häufig. „Die meisten Menschen können nicht damit umgehen, haben zu viele Vorurteile“, weiß Bornheimer.
Das habe dazu geführt, dass er sich viele Jahre versteckt und verstellt habe. Seit 15 Jahren sei er mittlerweile stabil. Nicht nur wegen der richtigen Medikation und mehrerer Therapien, darunter auch stationärer Klinikaufenthalte. Sondern auch deshalb, weil er sein Leben umgekrempelt habe.
„Mir war irgendwann klar, dass ich diese Zustände nicht mehr will. Also habe ich mich intensiv mit meiner Erkrankung auseinandergesetzt. Seither erkenne ich nicht nur die die Frühwarnzeichen, sondern lebe grundsätzlich bewusster.“
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Telefonberatung für Betroffene und Angehörige
Die Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störung (DGBS) bietet Betroffenen, Angehörigen und Interessierten auch eine telefonische Beratung an. Das dafür zuständige Team besteht sowohl aus Personen mit Bipolarer Störung als auch Angehörigen Manisch-Depressiver, sagt Barbara Wagenblast, die das Beraterteam seit vielen Jahren leitet.
Seit dem 1. August 2020 sind die Beraterinnen und Berater der DGBS nun auch kostenfrei unter der Telefonnummer 0800/ 55 33 33 55 erreichbar. Und zwar montags von 10 bis 13 Uhr, dienstags von 14 bis 17 Uhr, mittwochs von 15 bis 18 Uhr, donnerstags von 17 bis 20 Uhr und freitags von 10 bis 13 Uhr.