Berlin. Bei einigen Covid-19-Patienten gerät das Immunsystem außer Kontrolle – es reagiert zu stark. Das sind die neusten Forschungsergebnisse.

Zwei Fälle, wie sie sich derzeit tausendfach auf der Welt abspielen könnten: auf der einen Seite eine junge Frau, die nichts von ihrer Infektion mit dem neuen Coronavirus bemerkt. Sie zeigt keine Symptome. Erst als ihr Kollege erkrankt, lässt sie sich testen – positiv. Auf der anderen Seite ein älterer Herr, der nach einer Ansteckung mit dem Virus mit einer schwer entzündeten Lunge auf der Intensivstation liegt. Atmen kann er nur mithilfe einer Maschine.

Es sind zwei Fälle, die illustrieren, wie unterschiedlich der Körper den Kampf gegen der Erreger führt. Dabei spielen nicht immer allein das Alter oder mögliche Vorerkrankungen eine Rolle, sondern auch die Frage, ob das Immunsystem in der Lage ist, angemessen auf die Infektion zu reagieren. Nicht zu stark und nicht zu schwach.

Corona und Immunsystem – „Die Patienten sterben nicht am Virus selbst“

Wissenschaftler widmen sich derzeit verstärkt diesem Thema. Sie haben festgestellt, dass die körpereigene Abwehr gerade bei Menschen mit schweren Krankheitsverläufen überreagiert. „Die Patienten sterben dann nicht am Virus selbst, sondern an der ausgeuferten Aktivität der Immunzellen“, erklärt Irina Lehmann, Leiterin der Arbeitsgruppe Molekulare Epidemiologie am Berlin Institute of Health (BIH).

Ein Team des Instituts befasst sich mit dieser lebensgefährlichen Entzündungsreaktion, die so gar nicht zu der lebenserhaltenden Rolle des Immunsystems passen will.

Corona-Antikörper heften sich an einen bestimmten Erreger

Denn es gehört zu den Hauptaufgaben des Immunsystems, Krankheitserreger wie Bakterien, Pilze oder eben Viren unschädlich zu machen und zu entfernen. Aktiviert wird es durch körperfremde Stoffe, sogenannte Antigene.

Auch Eiweiße auf der Oberfläche von Viren sind solche Antigene. Sobald diese von den Immunzellen erkannt werden, starten zahlreiche Prozesse. Beispielsweise werden Killerzellen in Gang gesetzt, die virusinfizierte Zellen abtöten. Der Mensch spürt das etwa, wenn er Fieber bekommt.

Kennt das Immunsystem den Erreger, weil der Mensch schon einmal infiziert war oder gegen ihn geimpft ist, kann es darüber hinaus Antikörper bilden, die sich ganz spezifisch an diesen Erreger heften und ihn damit für die Immunzellen sichtbar machen – das nennt sich spezifische Immunantwort. Das Immunsystem hat gelernt, wie es mit dem Eindringling fertig wird.

Testosteron – Männer haben schlechteres Immunsystem als Frauen

Für Oliver Witzke, Direktor des Westdeutschen Zentrums für Infektiologie an der Uniklinik Essen, steht erst mal fest: Das Immunsystem spielt im Kampf gegen Sars-CoV-2 grundsätzlich eine positive Rolle. „Das zeigt sich an den T-Helferzellen im Blut, Fachleute sprechen von CD4-Lymphozyten. Sie wurden bekannt im Zusammenhang mit HIV-Infektionen und Aids“, sagt Witzke. „Wer wenige davon hat, dessen Abwehrsystem ist gestört und dem droht ein schwerer Verlauf bei einer Corona-Infektion.“

Doch offenbar versucht der Körper gerade bei Menschen, die kein gutes Immunsystem haben, dieses in der zweiten Phase der Infektion viel zu stark zu aktivieren. Das kann zum Beispiel bei älteren Menschen geschehen, deren Abwehr aus immunologischen Gründen nicht mehr so flexibel ist. „Es ist zudem so, dass Männer ein schlechteres Immunsystem haben als Frauen“, sagt Witzke. Das liege unter anderem an den Hormonen – das Testosteron spiele dabei keine gute Rolle.

Experten sprechen bei dieser Überreaktion des Immunsystems von sogenannten Zytokinstürmen. Zytokine werden gebildet, um weitere Immunzellen an den Ort der Entzündung zu bringen und sie zu aktivieren, worauf diese ebenfalls Zytokine bilden, um die Immunreaktion weiter zu verstärken.

Mundschutz-Mode- Kreativ durch die Krise

Menschen weltweit machen aus der Not eine Tugend und gestalten sich selbst Mundschutz-Masken. Unsere Fotos zeigen besondere Stücke.
Menschen weltweit machen aus der Not eine Tugend und gestalten sich selbst Mundschutz-Masken. Unsere Fotos zeigen besondere Stücke. © dpa | Kay Nietfeld
Jan Scheper-Stuke, Geschäftsführer der Berliner Krawattenmanufaktur Auerbach, zeigt eine Mund-Nase-Maske aus der aktuellen Kollektion seiner Krawattenwerkstatt.
Jan Scheper-Stuke, Geschäftsführer der Berliner Krawattenmanufaktur Auerbach, zeigt eine Mund-Nase-Maske aus der aktuellen Kollektion seiner Krawattenwerkstatt. © dpa | Carsten Koall
Günter Baaske, Abgeordneter der SPD-Fraktion, trägt während der Brandenburger Landtagssitzung in Potsdam einen Mundschutz mit dem Motiv eines Fisches.
Günter Baaske, Abgeordneter der SPD-Fraktion, trägt während der Brandenburger Landtagssitzung in Potsdam einen Mundschutz mit dem Motiv eines Fisches. © ZB | Soeren Stache
Das kommt auf die Maske an. Liebevolle Signale sendet diese Frau mit einem Herzchen-Mundschutz an, der von palästinensischen Künstlern im Stadtteil Shejaiya bemalt wurde.
Das kommt auf die Maske an. Liebevolle Signale sendet diese Frau mit einem Herzchen-Mundschutz an, der von palästinensischen Künstlern im Stadtteil Shejaiya bemalt wurde. © dpa | Ahmad Hasaballah
Dein Freund und Helfer. Ein Sicherheitsbediensteter in Manila (Philippinen), der einen Mundschutz mit dem Superman-Logo trägt, zeigt einer Passantin den Weg.
Dein Freund und Helfer. Ein Sicherheitsbediensteter in Manila (Philippinen), der einen Mundschutz mit dem Superman-Logo trägt, zeigt einer Passantin den Weg. © dpa | Aaron Favila
Drei Männer tragen Mundschutz und fotografieren sich am India Gate in Neu Delhi, einer Touristenattraktion.
Drei Männer tragen Mundschutz und fotografieren sich am India Gate in Neu Delhi, einer Touristenattraktion. © dpa | Javed Dar
Dubai: Ein junger Mann hat einen Mundschutz während der „Middle East Comic Con“ auf.
Dubai: Ein junger Mann hat einen Mundschutz während der „Middle East Comic Con“ auf. © dpa | Kamran Jebreili
„Aliens werden dich vor dem Corona schützen“ steht auf der Maske dieses Mannes in Tunis.
„Aliens werden dich vor dem Corona schützen“ steht auf der Maske dieses Mannes in Tunis. © dpa | Chokri Mahjoub
Ein weiterer Slogan: „Gott segne Ecuador
Ein weiterer Slogan: „Gott segne Ecuador". Dieses Mal in Quito, Ecuador. © dpa | Juan Diego Montenegro
Ein Minibus-Taxifahrer mit Mundschutz schaut aus seinem Auto in Soweto, Südafrika.
Ein Minibus-Taxifahrer mit Mundschutz schaut aus seinem Auto in Soweto, Südafrika. © dpa | Themba Hadebe
Das Model Klarika Koly zeigt sich mit buntem Mundschutz der Modedesignerin Pia Bolte in München.
Das Model Klarika Koly zeigt sich mit buntem Mundschutz der Modedesignerin Pia Bolte in München. © dpa | Felix Hörhager
Die Schmuckdesignerin Nicole Hayduga trägt in ihrem Showroom in Dachau eine von ihr entworfene Atemschutzmaske.
Die Schmuckdesignerin Nicole Hayduga trägt in ihrem Showroom in Dachau eine von ihr entworfene Atemschutzmaske. © dpa | Sven Hoppe
Es geht auch unkonventionell: Abderrahim, ein Straßenverkäufer, trägt in Rabat in Marokko eine provisorische Gesichtsmaske aus Feigenblättern.
Es geht auch unkonventionell: Abderrahim, ein Straßenverkäufer, trägt in Rabat in Marokko eine provisorische Gesichtsmaske aus Feigenblättern. © dpa | Mosa'ab Elshamy
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Corona: Organe können massiv geschädigt werden

Irina Lehmann und ihr Team am BIH beobachteten diese unkontrollierte Reaktion des Abwehrsystems bei geschwächten Patienten. „Wir haben besonders viele aktivierte Immunzellen im Nasen-Rachen-Raum von Patienten gefunden, die einen sehr schweren Krankheitsverlauf hatten und beatmet werden mussten“, erklärt die Forscherin.

Riskant daran: Diese Immunreaktion beruhigt sich nicht automatisch, wenn das Antigen nicht mehr vorhanden ist. „Diese übermäßige Aktivierung kann bei Covid-19-Patienten dazu führen, dass die Lunge massiv geschädigt wird und ebenso wie andere Organe versagt“, sagt Lehmann. Ähnlich wie bei einer Blutvergiftung laufe die Reaktion des Körpers nicht richtig gesteuert ab, sagt Oliver Witzke.

Was diese Erkenntnisse für die Therapie bedeuten, klingt zunächst riskant. Ist es doch die ureigene Aufgabe des Immunsystems, Krankheitserreger abzuwehren. Aber: „Die Immunantwort muss gebremst werden“, sagt Achim Hörauf, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Parasitologie an der Universität Bonn.

Kortison gegen Corona: Dieses bekannte Medikament könnte helfen

Das könnte mithilfe eines seit Jahrzehnten zugelassenen Medikaments gelingen: Dexamethason. Forscher der britischen Universität Oxford konnten zeigen, dass das Kortisonpräparat die übermäßige Ausschüttung der Zytokine unterdrückt und zu einer geringeren Sterblichkeit bei beatmeten Patienten geführt hat.

Die Studie ist noch nicht unabhängig begutachtet und in einem Fachmagazin veröffentlich worden. Dennoch wird Dexamethason in Großbritannien bereits für die Behandlung von Covid-19 eingesetzt. Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach im Juni von einem Durchbruch.

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Irina Lehmann und ihre Kollegen verfolgen eine andere Strategie. Sie schauen sich die verschiedenen Immunzellen der Covid-19-Patienten ganz genau an. In ihrer gerade in der Fachzeitschrift „Nature Biotechnology“ veröffentlichten Studie beschreiben sie, dass vor allem sogenannte Makrophagen für die überschießende Immunantwort verantwortlich sind.

Antikörper: Forscher untersuchen verschiedene Mittel gegen Corona

Künftig wollen sie bestimmte Rezeptoren auf diesen Fresszellen blockieren und dadurch Signalwege unterbrechen, damit das hyperaktive Immunsystem heruntergefahren wird. „Auf der anderen Seite gilt es, die Zellen, die das Virus bekämpfen, gezielt zu aktivieren“, meint Oliver Witzke.

Ebenso wie seine Berliner Kollegin strebt er für die Therapie elegantere Lösungen und gezielter einsetzbare Präparate als Dexamethason an. Etwa die Behandlung mit Blutplasmapräparaten von Patienten, die Covid-19 überwunden und Antikörper gegen das Virus gebildet haben.

Mit der Uniklinik Essen ist Witzke an der Recover-Studie unter der Leitung des Uniklinikums Heidelberg beteiligt. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, ob Menschen mit einem hohen Risiko für einen schweren Verlauf durch Gabe von Blutplasma mit Antikörpern geschützt werden können. Ziel sei, das Virus auszubremsen, bevor die Entzündungsreaktionen lebensbedrohliche Schäden verursachen könnten, heißt es in einer Mitteilung dazu.

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