Berlin. Laut einer aktuellen Studie kann das Raubtier in Deutschland beinahe überall heimisch werden – und zwar längst nicht nur in Wäldern.
Der Wolf als Nachbar? Es ist nur 20 Jahre her, da galt Canis lupus in Deutschland als ausgerottet. Doch im Jahr 2000 wurden nach mehr als 150 Jahren erstmals wieder Wolfswelpen geboren, auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz in Sachsen.
Mittlerweile leben in Deutschland – Wolfsland Nummer eins ist Brandenburg – insgesamt 105 Wolfsrudel, 29 Wolfspaare und elf einzelne Wölfe. Und es könnten in den kommenden Jahren mehr werden als gedacht.
Bislang gingen Biologen davon aus, dass es deutschlandweit 440 Gebiete gibt, in denen Wölfe sesshaft werden könnten. Doch sind es viel mehr: 700 bis 1400 Reviere. In ihnen könnten jeweils leben: ein einzelner Wolf, ein Paar oder ein ganzes Rudel, das sind meist drei bis elf Tiere, nämlich die Eltern und ihre Nachkommen der letzten zwei Jahre.
Das zeigt eine Studie, die das Bundesamt für Naturschutz veröffentlicht hat. Es ist die bislang umfassendste Analyse zur Frage: Wo in Deutschland könnten sich überall Wölfe wohlfühlen?
Wolf: Mythos und Wahrheit
Insgesamt wären es also viele Tausende Tiere, das Fell meist gelbbraun bis grau, das Gesicht eher dunkel mit weißen Wangen. Markant ist ihr Geheul, vermehrt während der Dämmerung zu hören. Denn dann beginnt die Zeit der Beutejagd: Der Wolf ist nachtaktiv. Den Mond heulen Wölfe aber nicht an. Das ist ein Mythos. Stattdessen kommunizieren die Wölfe untereinander, markieren so zum Beispiel auch ihr Revier. Für andere heißt das: Bis hierher und nicht weiter.
Für die Studie haben Forscherinnen und Forscher des Berliner Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung und der Veterinärmedizinischen Universität Wien die Lebensgewohnheiten der Wölfe nachvollzogen. Sie erforschten dafür unter anderem 20 Wölfe in Deutschland, die mit einem Sendehalsband versehen wurden. So konnten sie metergenau die Wege der Tiere nachvollziehen.
Raubtiere können fast überall sesshaft werden
Das Ergebnis: Wölfe können anders als lange Zeit angenommen nicht nur Wälder besiedeln, sondern „auch reine Agrarlandschaften“. Es muss dort nur Rückzugsgebiete geben, „in denen sie ungestört den Tag verbringen können“. So müsse, folgern die Experten, „überall mit durchwandernden Wölfen gerechnet werden“, vor allem könnten sie „fast überall in Deutschland sesshaft werden“.
Nicht mitten in Berlin, in Hamburg, anderen dicht besiedelten Regionen wie Leipzig-Halle oder in den Ballungsräumen Nordrhein-Westfalens. Doch etwa in den bayerischen Alpen, entlang der tschechischen Grenze, in den Mittelgebirgen oder verstreut in Nordostdeutschland.
Vor allem Schäfer und Bauern leiden unter Ausbreitung des Wolfes
Das Problem: Noch hat sich der Mensch nicht an den Wolf gewöhnt. Erst Anfang Juni 2020 prallte in Niedersachsen auf der B6 ein Auto mit einem jungen Wolf zusammen. Der 76-jährige Fahrer kam von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Er starb. Das Tier überlebte den Unfall auch nicht. In den weitaus meisten Fällen sind es allerdings Rehe, die auf den Straßen von Autos erfasst werden. Der Wolf macht es vor allem Schäfern und Bauern schwer.
So sorgte zuletzt etwa GW924m im Norden Deutschlands für Schlagzeilen – GW wie grauer Wolf, 924 für den genetischen Code, m für männlich. Manche nannten ihn Dani. Anfang dieses Jahres fuhr auch ihn ein Fahrzeug an, Dani kam ums Leben. Zuvor waren Jäger monatelang auf der Pirsch nach ihm gewesen. Er soll in anderthalb Jahren vor allem in Schleswig-Holstein mehr als 60-mal Schafe gerissen haben. Nicht nur Problemwölfe wie er wecken Ängste.
Wann Wölfe geschossen werden dürfen
Was sich tun lässt? Zum Abschuss dürfen Wölfe nur freigegeben werden, wenn sie wie GW924m auffällig werden. Sie sind durch viele Vorgaben geschützt, etwa die europäische Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, das Bundesnaturschutzgesetz.
Das Problem, so muss man die Experten verstehen: Gelegenheit macht auch aus Wölfen Diebe, die im Erwachsenenalter etwa 30 bis 50 Kilo auf die Waage bringen.
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Sie ernähren sich zwar zu mehr als 90 Prozent von Rehen, Hirschen, Wildschweinen. Doch lässt sich ein Schaf, eine Ziege, ein Rind leicht erwischen, dann jagen und töten sie diese. Darum empfehlen die Wissenschaftler in ihrer Studie, sich schon jetzt bundesweit auf den Wolf einzustellen und „effektive Herdenschutzmaßnahmen“ zu ergreifen.
Wölfe mit Zäunen und Herdenschutzhunden fern halten
Das sind für sie elektrifizierte, bodenabschließende Zäune, mindestens 120 Zentimeter hoch, auch Herdenschutzhunde. Die verteidigen Schafe oder Rinder gegen wildlebende Angreifer. Als wären sie eine Familie, vertreiben die Hunde jeden, der sich unerlaubt der Herde nähert.
Für Landwirte und Schäfer bedeutet das in jedem Fall mehr Aufwand. Zwar fördern viele Bundesländer den Herdenschutz schon heute – die einen allerdings mehr, die anderen weniger. Der Präsident des Umweltverbandes Nabu, Jörg-Andreas Krüger, hat bereits alle Bundesländer aufgefordert, „100 Prozent der Anschaffungs- sowie Unterhaltskosten für Zaunmaterial und Herdenschutzhunde zu fördern und Standards für guten Herdenschutz zu kommunizieren“.
Kommentar: Wölfe sind keine Kuscheltiere
Und wie schützt sich der Mensch? „Der Wolf ist vorsichtig und überwiegend nachts unterwegs“, erklärt Ilka Reinhardt, Leiterin des Lupus-Institut für Wolfsmonitoring und -forschung in Deutschland. Man dürfe ihn nur nicht mit Futter anlocken, etwa um ihn zu fotografieren. „Es kommt extrem selten vor, dass Wölfe Menschen angreifen. Das hat es in Deutschland auch noch nicht gegeben.“ In der Regel ignorierten die Tiere den Menschen – und gingen ihrer eigenen Wege.