Berlin. Krebs, Übergewicht, Hungerattacken: Über die Risiken von Süßstoff kursiert viel Halbwissen. Belegt ist davon wenig, sagen Experten.
Nutella wird noch süßer! Die Nuss-Nougat-Creme enthält nun 56,3 statt 55,9 Prozent Zucker. Während Übergewicht zum größten Problem unserer Gesellschaft zu werden droht, sei dies ein völlig falsches Signal von Süßwarenriese Ferrero, kritisieren Verbraucherschützer. Ein Diätprodukt war Nutella allerdings auch vorher nicht. Dass große Mengen davon dick machen, ist kein Geheimnis.
Wer Kalorien zählt, aber nicht auf Süßes verzichten will, greift im Supermarkt häufig zu „Diät“- und „Light“-Produkten, die Süßstoffe statt Zucker enthalten. Eine Strategie, die beim Abnehmen helfen kann – solange sie nicht als Entschuldigung dient, noch mehr zu essen, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Doch neue Studien verunglimpfen die chemischen Süßer selbst als Dickmacher. Stehen die Stoffe zu Recht in der Kritik?
Zehn Süßstoffe sind in der EU zugelassen
Schon bei seiner Zulassung im Jahr 1982 hatte einer der bekanntesten Süßstoffe, Aspartam, einen schlechten Ruf. Der Stoff stand im Verdacht, Allergien, Epilepsie oder gar Hirntumore zu begünstigen. Studien bestätigten das nicht. Doch das Misstrauen gegenüber den chemisch hergestellten Süßern blieb. Zehn Süßstoffe sind heute in der EU zugelassen. Sie stecken etwa in Limonaden, Fruchtsaftgetränken oder Marmeladen, in zuckerfreien Süßigkeiten, Suppen oder Müsli und sind sogar für Bier, Senf und Wurst zugelassen.
In Anbetracht ihrer Allgegenwärtigkeit gibt es nur wenige Studien, die ihre Wirkung auf die Gesundheit untersuchen, schrieben im Juni Forscher der kanadischen University of Manitoba im „Canadian Medical Association Journal“. Für eine viel beachtete Meta-Analyse werteten sie 37 mehrheitlich in den USA durchgeführte Studien mit mehr als 400.000 Probanden aus. Ihr Fazit: Dass Süßstoffe die Gewichtskontrolle oder das Abnehmen unterstützen, lässt sich aufgrund der Datenlage nicht bestätigen. Im Gegenteil, die ausgewerteten Beobachtungsstudien ließen sogar den Schluss zu, dass regelmäßiger Verzehr von Süßstoffen das Gewicht hochtreibt.
Zweifel an Belastbarkeit von Studien
„Ich teile diese Schlussfolgerung nicht“, erklärt Stefan Kabisch, Studienarzt in der Abteilung für Klinische Ernährung am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (Dife). So seien in die Meta-Analyse nur sieben der besonders aussagekräftigen sogenannten Interventionsstudien einbezogen worden – bei diesem Studiendesign wird genau festgelegt, ob und wie viel der jeweils untersuchten Substanz die Probanden zu sich nehmen. „Bei diesen Studien hat sich kein signifikanter Effekt zum Beispiel auf den Body-Mass-Index gezeigt“, sagt Kabisch. Bei den übrigen 30 Untersuchungen habe es sich um weniger belastbare Beobachtungsstudien gehandelt. „Was die Studienteilnehmer hier wann genau gegessen haben, lässt sich nicht kontrollieren.
Dass einige Studien einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Süßstoffverzehr gezeigt haben, könnte auch daran liegen, dass Adipöse vielleicht generell mehr Süßstoffe zu sich nehmen als Normalgewichtige“, sagt Hans Hauner, Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, das zur TU München gehört. Ein plausibler und stabiler Mechanismus ließe sich daraus aber kaum ableiten.
Krebsrisiko durch Süßstoff? Studien belegen das nicht
Auch andere Süßstoff-Untersuchungen, die in den vergangenen Jahren für Aufsehen gesorgt haben, betrachten die Experten kritisch. So veröffentlichten israelische Forscher 2014 eine Studie im Fachblatt „Nature“, die zeigen sollte, dass die Süßstoffe Aspartam, Saccharin und Sucralose die Darmflora verändern und so Stoffwechselstörungen und Diabetes fördern. „Die Ergebnisse stammen aus einer Mäusestudie. Das ist Grundlagenforschung, die sich nicht direkt auf den Menschen übertragen lässt“, so Kabisch. Die These sei im Anschluss an nur sieben Probanden überprüft worden. „Das kann man fast nicht als Studie bezeichnen“, sagt Hauner, „eher als Hinweis, dem man in größeren Untersuchungen einmal nachgehen könnte.“
Ebenso aus Tierversuchen stammten viele Ergebnisse zu möglichen Krebsrisiken der Süßstoffe. Hohe Konzentrationen des Stoffes Cyclamat führte bei Ratten zu Blasenkrebs und verminderter Fruchtbarkeit, in den USA ist der Stoff deshalb verboten. Der 1879 erfundene und damit älteste bekannte synthetische Süßstoff Saccharin soll in Tierversuchen die Tumorentstehung angekurbelt haben. Mittlerweile gelten diese Annahmen als nicht belegt.
machen Süßstoffe abhängig?
„Wenn es einen starken Effekt, wie etwa ein Krebsrisiko, erwiesenermaßen gäbe, wären Süßstoffe nicht in Lebensmitteln zugelassen“, sagt Kabisch. Einen generellen Freibrief wollen aber weder die Wissenschaftler noch die Behörden den chemischen Stoffen ausstellen. So hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit für fast jeden der zehn Süßer einen pro Kilogramm Körpergewicht geltenden, täglichen Aufnahmehöchstwert im einstelligen Milligramm-Bereich festgelegt.
Denn über den Verzehr großer Mengen ist bislang wenig bekannt. Zudem „machen Süßstoffe vermutlich gleichermaßen abhängig wie Zucker, sie aktivieren im Gehirn die gleichen Areale“, erklärt Kabisch. Unbegrenzte Süßstoffmengen in Lebensmitteln seien also ebenso wenig wünschenswert wie überzuckerte Produkte – denn umso mehr wird gegessen.
Die verbreitete Theorie, dass Süßstoffe generell den Appetit anregen und so zu einer Gewichtszunahme führen, stamme ebenfalls überwiegend aus Tierversuchen, sagt Hauner, „man hat die Wirkung bei Ratten untersucht, die tatsächlich nach der Gabe von Süßstoffen mehr fraßen“. In Untersuchungen mit menschlichen Probanden habe sich diese Annahme aber bislang nicht eindeutig bestätigen lassen.
Süßstoffe für Kinder generell nicht zu empfehlen
Die Verbraucherzentralen raten dennoch vom häufigen Verzehr von Süßstoffen ab, für Kinder seien sie generell nicht zu empfehlen. „Kinder sollten ihren Durst ohnehin nicht mit gesüßten Getränken stillen. Viele Speisen lassen sich stattdessen auch mit selbst gemachtem Fruchtpüree süßen“, sagt Ernährungsexpertin Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale Hamburg.
Hauner hält die Empfehlung für nachvollziehbar: „Der kindliche Stoffwechsel funktioniert anders, und es gibt nur wenige Daten, wie Süßstoffe auf den jungen Organismus wirken.“ Für Übergewichtige, die etwa zuckergesüßte Getränke ersetzen möchten, oder für Diabetikerprodukte hält er Süßstoffe aber für eine empfehlenswerte Alternative.