Berlin. Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter krankhaftem Übergewicht. Was Eltern über Ursachen und die Prävention wissen sollten.
Mit Diabetes, Schlaganfällen oder kaputten Gelenken haben üblicherweise vor allem ältere Menschen zu kämpfen. Künftig könnten sich schon Kinder mit solchen Krankheiten herumschlagen, denn die Zahl der Übergewichtigen und Adipösen unter 18 Jahren wächst stetig.
Knapp 15 Prozent der Null- bis 17-Jährigen in Deutschland sind laut dem aktuellen Kinder- und Jugendgesundheitsbericht KIGGS des Robert-Koch-Instituts übergewichtig, mehr als sechs Prozent adipös – also bereits krankhaft übergewichtig. In Europa ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO mittlerweile schon einer von drei Elfjährigen zu dick. Was Eltern wissen sollten:
Wann ist ein Kind adipös?
Ärzte berechnen Übergewicht bei Erwachsenen mithilfe des sogenannten Body Mass Index (BMI): Körpermasse durch das Quadrat der Körpergröße (kg/m²). Ab einem BMI von über 25 gilt ein Erwachsener als übergewichtig, ab einem BMI von über 30 als adipös.
Bei Kindern lässt sich diese Formel jedoch nicht ohne Weiteres anwenden. Da Größe und Gewicht sich vor allem in der Pubertät ständig verändern, gibt es keinen einheitlichen Richtwert. Stattdessen ziehen Mediziner und Wissenschaftler sogenannte Perzentile heran. Ein Perzentil gibt an, wie viel Prozent Gleichaltriger des gleichen Geschlechts einen geringeren BMI als das untersuchte Kind haben. Sind es mehr als 90 Prozent, gilt das Kind als übergewichtig, sind es mehr als 97 Prozent, als adipös.
Diese in Deutschland angewandten Perzentile basieren auf Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Die Daten stammen aus Studien, die zwischen 1985 und 1999 durchgeführt und inzwischen um Ergebnisse aus der Nationalen Verzehrsstudie erweitert wurden.
„Eltern sollten allerdings nicht selber versuchen, zu rechnen, sondern mit ihrem Kind zum Arzt gehen, wenn sie sich Sorgen um das Gewicht machen“, sagt Martin Wabitsch, Leiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm. Der BMI sei nur ein grobes Maß, das nicht dazu diene, den Unterschied zwischen dick und moppelig zu definieren. „Es geht vor allem darum, schwere Adipositas rechtzeitig zu erkennen und dann einzugreifen“, so Wabitsch.
Eine rasant wachsende Anzahl übergewichtiger Kinder sei vor allem in anderen Teilen der Welt ein Problem – etwa in Asien und Afrika. „In Deutschland gab es diese Welle vor 20 Jahren, seither haben sich die Zahlen stabilisiert. Das Problem ist eine kleine Anzahl extrem adipöser Kinder und Jugendlicher, die tendenziell steigt“, erklärt der Experte.
Was sind die Gründe für Adipositas bei Kindern?
Die ständige Verfügbarkeit von stark zuckerhaltigen Lebensmitteln und gleichzeitig wenig Bewegung sind wesentliche, aber nicht die entscheidenden Ursachen für das Problem, sagt Wabitsch. „Der Großteil geht unter den heutigen Lebensbedingungen auf genetische und epigenetische Faktoren zurück.“ Epigenetische Faktoren sind Merkmale, die Vater und Mutter an ihre Kinder weitergeben, ohne dass diese fest in ihren Genen verankert sind.
„Ist etwa einer oder beide Elternteile vor der Zeugung stark übergewichtig, ist das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls betroffen“, erklärt der Mediziner. Studien hätten unter anderem gezeigt, dass Babys von Müttern, die vor ihrer zweiten Schwangerschaft deutlich abgenommen hätten, später seltener unter Übergewicht litten als ihre älteren Geschwister. Wie viele solcher Aspekte schließlich zusammenkommen, wird aktuell noch erforscht.
Gemeinsam mit Kollegen hat Gianni Varnaccia vom Robert-Koch-Institut über 60 potenzielle Einflussfaktoren ausgemacht, die bei Kindern für Adipositas mitverantwortlich sein können. Im Rahmen des Projektes AdiMon entwickeln die Wissenschaftler ein System, das die Ursachen für starkes Übergewicht bei Kindern in Deutschland aufzeigt. So soll eine frühzeitig ansetzende Prävention unterstützt werden.
Zu den möglichen Ursachen zählen demnach auch biologische und psychologische Faktoren, die bislang noch nicht im Fokus standen. „Wie groß ihr Einfluss ist, ist bislang aber weitgehend unklar“, sagt Varnaccia. So gebe es etwa Hinweise darauf, dass per Kaiserschnitt geborene Kinder häufiger adipös werden als natürlich geborene.
„Das Gleiche gilt für Kinder, denen die Mandeln entfernt wurden“, erklärt Varnaccia. Sogar ein strenger Erziehungsstil könnte mit starkem Übergewicht von Kindern in Verbindung stehen. „Bislang gibt es aber erst wenige Studien, die diese Zusammenhänge zeigen“, so der Wissenschaftler. Andere Bereiche seien besser untersucht. So sei relativ sicher, dass Rauchen oder eine starke Gewichtszunahme der Mutter in der Schwangerschaft sowie Schwangerschaftsdiabetes die Entwicklung von Adipositas in späteren Jahren begünstige.
Dass starkes Übergewicht bei Kindern aber nicht nur ein individuelles, sondern auch ein systemisches Problem ist, zeigen weitere Faktoren auf der Liste der Forscher: So spielt etwa auch die Wohnumgebung der Kinder eine Rolle und die Frage, ob es dort Bewegungsmöglichkeiten wie Schwimmbäder, Spielplätze oder Parks gibt, wie viele Fast-Food-Restaurants dort stehen und mit wie viel Werbung für ungesunde Lebensmittel Kinder konfrontiert werden.
Was ist bei der Ernährung von Kindern wichtig?
„Die Weichen für Adipositas werden früh gestellt“, sagt der Mediziner Jakob Maske vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. „Das beginnt schon beim schützenden Effekt der Muttermilch.“ Optimal sei eine Stillzeit von vier bis sechs Monaten. Idealerweise sollte das Kind in dieser Zeit noch nicht mit gesüßten Lebensmitteln in Berührung kommen, denn ein früher Kontakt kann die Neigung zu Süßem auch später befeuern – sie ist erlernt, nicht angeboren. „Deswegen sollte auch die Beikost zuckerfrei sein“, erklärt der Kinderarzt.
Meist entwickele sich Übergewicht schon in der Kleinkindzeit, wenn erstmals hoch verarbeitete Fertignahrung, zuckerhaltige Limo, Süßigkeiten oder Fruchtjoghurts auf dem Speiseplan stehen. „Haben sich Kinder erst einmal an diesen Geschmack gewöhnt, ist es auch wahrscheinlicher, dass sie Herzhaftes und Gemüse ablehnen“, sagt Maske. Eltern sollten darauf achten, dass der Nachwuchs „nicht mehr als eine Kinderhand voll“ Süßes am Tag isst. „Ein Fruchtjoghurt erfüllt das schon“, ergänzt der Experte. Darüber hinaus ist „das Vorbild der Eltern bei Ernährung und Bewegung ausschlaggebend“, ist Mediziner Wabitsch überzeugt.