Berlin. Kann Schokolade wirklich beim Wachsen helfen? Vor zehn Jahren regelte die EU zum ersten Mal Gesundheitsversprechen auf Lebensmitteln.

Schokolade „hilft beim Wachsen“, Rinderhodenextrakt „stärkt die Manneskraft“ und das Gemüse-Pigment Lutein dient als „innere Sonnenbrille“. All diese Slogans könnten heute auf der Verpackung von Lebens- und Nahrungsergänzungsmitteln im Supermarkt stehen, wenn es die Health-Claims-Verordnung nicht geben würde, die Verordnung über gesundheitsbezogene Aussagen.

Lassen diese sich nicht wissenschaftlich belegen, werden sie von der Europäischen Kommission abgelehnt. In den zehn Jahren seit dem Bestehen der Verordnung scheiterten über 2000 Anträge von Herstellern aus ganz Europa an den EU-Vorgaben, 261 wurden ihnen bisher gerecht – in ihrem Jubiläumsjahr stehen die Health Claims nun an einem Wendepunkt.

Glaubenskrieg um Gesundheitsversprechen

Seit jeher tobt in Brüssel zwischen Industrie und Verbraucherschützern ein von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkter Glaubenskrieg um die Gesundheitsversprechen. Denn die neue Verordnung schränkte die Hersteller zwar ein, sie erlaubte ihnen aber auch, als ungesund geltende Lebensmittel aufzuwerten.

„Schon wer seinem Produkt kleine Mengen günstiger Zusätze wie Vitamin C oder Zink beifügt, darf 33 gesundheitsbezogene Aussagen auf die Verpackung schreiben“, sagt Ernährungsexperte Armin Valet von der Verbraucherzentrale Hamburg. So werden zuckerhaltige Bonbons als vermeintlich gesunde Vitaminbomben verkauft.

Ungesunde Lebensmittel dürfen mit Vitaminen werben

Lässt die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa), die den wissenschaftlichen Teil der Prüfung übernimmt, einen Claim durchfallen, findet sich schnell ein anderer Dreh. „Die Kommission hat beispielsweise die Aussage ‚Probiotika helfen, das Immunsystem zu stärken‘ untersagt, weil sie nicht wissenschaftlich belegt ist“, erklärt Pauline Constant vom Europäischen Verbraucherverband BEUC (Bureau Européen des Unions de Consommateurs). Er vertritt in Brüssel 43 europäische Verbraucherorganisationen. „Aber einige unserer Mitglieder haben in ihren Ländern herausgefunden, dass eine sehr bekannte Firma weiterhin verspricht, ihr Joghurt würde das Immunsystem stärken. Alles, was sie dafür tun musste, war, einige Vitamine hinzuzufügen.“

Geplant war das eigentlich anders. „Ein Grundstein der Health-Claims-Verordnung war die Einführung von sogenannten Nährwertprofilen“, sagt Constant. Von unabhängiger Stelle sollten Höchstgehalte für Zucker, Fett und Salz festgelegt werden. Lebensmittel, die diese Werte überschreiten, hätten nicht mehr mit Gesundheitsversprechen werben dürfen.

„Die Europäische Kommission sollte die Profile bis 2009 vorlegen. Acht Jahre später und nach großem Widerstand der Industrie ist das noch immer nicht passiert, ungesunde Produkte dürfen weiterhin Health Claims benutzen“, erklärt Constant. „In Zeiten, in denen Fettleibigkeit auf dem Vormarsch ist, ist es nicht akzeptabel, Verbrauchern vorzutäuschen, ihr Essen sei gesünder, als es tatsächlich ist.“ Ändern dürften sich die Vorgaben in absehbarer Zeit trotzdem nicht – im Gegenteil. Die Nährwertprofile könnten abgeschafft werden, bevor es sie überhaupt gab.

Den gesamten Vorschriftendschungel lichten

„Ob es der von Beginn an umstrittenen Nährwertprofile tatsächlich bedarf, um die Verbraucher vor irreführender Gesundheitswerbung zu schützen oder nicht, wird gerade im Rahmen eines ‚Fitnesschecks‘ durch die Kommission überprüft“, sagt Peter Loosen, Geschäftsführer des Brüsseler Büros vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde , dem Spitzenverband der Deutschen Lebensmittelwirtschaft. Diese von der Kommission offiziell „Refit“ getaufte Maßnahme dient zur Lichtung des gesamten EU-Vorschriftendschungels. Ursprünglich sollte sie Hürden speziell für kleine Unternehmen abbauen, die an den abstrakten Vorgaben häufig scheitern.

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    Für Verbraucherschützer wäre das vorzeitige Ende der Nährwertprofile ein herber Rückschlag. „Wenn die Nährwertprofile nicht kommen, müssen die Health Claims nach Ansicht der Verbraucherzentralen komplett verboten werden“, sagt Armin Valet. Ihren Sinn, Käufer im Supermarkt vor Irreführung zu schützen, hätten sie dann verloren.

    „Auf das Ergebnis, das wohl erst nächstes Jahr zu erwarten ist, darf man gespannt sein“, kommentiert Herstellervertreter Loosen. Doch wie die Verbraucherschützer ist auch die Industrie mit dem Status quo unzufrieden. „Aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft ist die Verordnung deutlich zu restriktiv und bürokratisch und deshalb innovationsfeindlich ausgefallen.“ Es sei problematisch, dass gerade einmal 261 gesundheitsbezogene Angaben zugelassen seien. „Das ist nur ein Bruchteil des etablierten Ernährungswissens“, so Loosen. Die Mitgliedstaaten und die Kommission seien dem Anspruch, dieses Wissen in eine Liste zu gießen, nicht gerecht geworden. Deshalb gebe es praktisch keine zugelassenen Claims etwa zu Ballaststoffen oder bestimmten Pflanzeninhaltsstoffen, sogenannten Botanicals.

    Gerichte müssen Löcher in der Verordnung stopfen

    Auf der ein oder anderen Verpackung sind sie trotzdem zu finden, weiß Verbraucherschützer Valet: „Es gibt über 2000 Aussagen zu Botanicals, die noch nicht bewertet wurden und übergangsweise benutzt werden dürfen. Darunter fallen zum Beispiel Gesundheitsaussagen zu Ingwer oder Ginkgo.“ Sie ließen sich nur mithilfe aufwendiger Langzeitstudien belegen – eine weitere Aufgabe, die bislang unerledigt auf der To-do-Liste der Kommission wartet.

    Doch bei aller Kritik – „die Verordnung kann auch ein gutes Werkzeug sein“, gibt der Verbraucherschützer zu. Mit ihrer Hilfe hätten etwa schon Aussagen wie „bekömmliches Bier“ oder „magenfreundlicher Kaffee“ abgemahnt werden können. Solange die Verordnung Herstellern jedoch Schlupflöcher offen halte, müssten Gerichte diese bisweilen mit Einzelurteilen stopfen.

    So geschehen im Juni, als der Europäische Gerichtshof dem Hersteller Dextro Energy untersagte, seine Traubenzucker-Würfel mit dem Gesundheitsversprechen „Glukose unterstützt die normale körperliche Betätigung“ zu bewerben – obwohl diese Aussage faktisch nicht falsch ist, wie die Efsa bestätigte. Die Europäische Kommission hatte sie trotzdem nicht zugelassen. Die Werbung würde Verbraucher verwirren, denn grundsätzlich würde dazu geraten, weniger Zucker zu verzehren. Der Hersteller klagte und verlor.