Hamburg. Das Geschäft mit dem Jugendaustausch boomt, vor allem mit den USA. Dutzende Anbieter buhlen um Kunden. Spurensuche in einer Branche.
Der Traum von der Ferne lacht von Postern und Postkarten. Mädchen mit Surfbrettern unter dem Arm, Jungs in Football-Shirt, Jugendliche vor der High School und der Freiheitsstatue, lachend mit ihren Gasteltern oder mit Amerika-Flagge in der Hand. Die Wohlfühlwelt eines Teenagers, der in der Fremde Neues sucht. Markige Sprüche untermalen die Sehnsucht: Schmecke die Welt. Träume es nicht. Mache es!
Es geht gegen Mittag in der Aula der International School in Klein Flottbek. “Schüleraustausch-Messe” steht auf einem Schild am Eingang. An knapp 40 Ständen werben Organisationen um Kinder und ihre Eltern. Um Kunden, wie manche hier sagen. Austauschjahre, Sommercamps, Sprachreisen, Freiwilligendienste. Zwischen 60 Ländern können die Besucher wählen. Eine Bank bietet für Kreditkarten für Austauschschüler an, ein Unternehmen Policen, in denen auch das Surfbrett versichert ist. Familien wuseln sich durch die Gänge, tragen Broschüren und Flyer unter ihren Armen, drängen vor die Info-Stände der Anbieter. In der Aula der Hamburger Schule ist der Traum von der Ferne stickig und laut.
Schüleraustausch begann auf Trümmern
Aber Anton ist gerade ziemlich happy, wie er sagt. Er besucht die neunte Klasse eines Hamburger Gymnasiums. Und wenn alles gut läuft, kann er während seines Schuljahres in den USA jede Menge Volleyball spielen. Eine Organisation bietet eine Schule an, die ein spezielles Sport-Programm hat. Anton liebt Volleyball. Und überhaupt, so ein Jahr in Amerika, das sei eine coole Erfahrung. Neue Schule, neue Eltern, neue Freunde, ein bisschen auch ein neues Leben. Wenn er sich für Kanada entscheide, dürfe er sich sogar die Stadt aussuchen. Noch so ein Extra. Und Antons Mutter kennt jetzt auch die Preise für manche Extras. 18.000 Euro koste eines der Angebote für ein Schuljahr in den USA. “So teuer war die Renovierung von unserem Dach”, sagt sie.
Weltfrieden und Völkerverständigung, so fing das alles an, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und eigentlich begann die Geschichte des Schüleraustauschs noch viel früher, mit einer Frage: “Can you drive a Car?” So warb der “American Field Service”, AFS, auf einem Plakat in Boston um freiwillige Helfer. Auf Europas Schlachtfeldern tobte der Erste Weltkrieg und Amerikaner machten sich auf, um als Sanitäter Verwundete zu retten.
Nach dem Krieg organisierten die früheren Sanitäter einen ersten Austausch zwischen den USA und Europa. Der Schüleraustausch begann auf den Trümmern des Krieges. Und auf den Schultern der Jugend wollten die Macher die Welt wieder aufbauen. Völkerverständigung war ihre Mission. Heute ist “AFS Interkulturelle Begegnungen” einer der größten Austauschvereine, ihr Deutschland-Büro liegt in Altona. Christopher Braun, der Marketing-Direktor, sagt: “Wir sind missionsgetrieben.”
Mehr als 300.000 junge Menschen aus Deutschland lebten bisher als Schüler im Ausland. Jedes Jahr sind es knapp 20.000 Teenager, die nach Südamerika, nach Australien, manche sogar nach Südafrika oder Russland reisen. Doch noch immer sind die USA das Zielland Nummer 1 für Deutschlands Jugend. Jedes Jahr flogen dorthin so viele Schüler wie in alle anderen Länder der Welt zusammen. In dieses große, widersprüchliche Land, das viele vorher nur durch Fernsehserien, Nachrichten und McDonalds-Filialen in ihrer Nachbarschaft kennen.
Kinder der Nazis sollten Demokratie lernen
Im Flur der Zentrale vom Deutschen Youth For Understanding, YFU, nahe der Alster hängen heute schwarz-weiße Fotos aus dieser Vergangenheit. Männer in Anzügen, Frauen in Röcken auf dem Flugplatz, hinter ihnen eine Propellermaschine der “Pan American World Airways”, Westberlin 1951, der Kalte Krieg lief gerade heiß. Und amerikanische Soldaten im geteilten Deutschland hatten 75 Teenager ausgewählt. Ein Jahr sollten sie in Gastfamilien in den USA leben. Die US-Regierung forcierte das Programm, Kirchen und Studenten engagierten sich, YFU gründete sich. Die Kinder der Nazis sollten im fernen Amerika die Demokratie kennenlernen.
Heute warnt Verbraucherschützer Barbara Engler von der unabhängigen und gemeinnützigen Aktion Bildungsinformation (ABI e.V.): „Die gute Idee des Schüleraustauschs, nämlich Kennenlernen von Kultur und Leuten, verliert an Bedeutung, wenn der Kommerz eine immer größere Rolle spielt.” Und Knut Möller, der Geschäftsführer von YFU in Deutschland, sagt: „Leider wurde der Schüleraustausch in Deutschland in den vergangenen Jahren entpolitisiert, und staatliche Stellen tun zu wenig, um dem entgegen zu wirken.“
Und das Geschäft. Fast 70 Werbe-Events wie die Austausch-Messe in Groß Flottbek gibt es pro Jahr in ganz Deutschland. Ein Besuch reiche für einen ersten Überblick aus. “Doch viele Familien gehen genauso schlau von den Messen, wie sie gekommen sind”, sagt Verbraucherschützerin Engler. Es geht vor allem ums Verkaufen, weniger um Transparenz, sagen Branchenkenner. Jeder pusht sein Angebot.
Disco, Lagerfeuer, Abenteuer – und Unterricht
Neuntklässler Anton und seine Mutter wuseln sich vor zum Stand der nächsten Firma. Die Frau hinter dem Tisch mit dem britischen Fähnchen bietet Sprachreisen nach England oder Malta an. Zwei Wochen im Sommer, dafür mit “Adventure”. Disco, Lagerfeuer, Floßbauen, Fußballturniere, Ausflüge nach London. Und: 27 Stunden Englischunterricht. Die Firma “One World” wirbt mit einer “Kalifornien-Garantie” für die USA. Ein paar Stände weiter lockt “STS High School” mit einer drei Wochen langen Tour von Los Angeles nach New York, gegen Aufpreis. Bei einer Firma gibt es “Geschwister-Rabatt”, und “Taste The World” bringt Jugendliche, die gerne reiten, in Gastfamilien mit Pferden unter. Aufpreis: 550 Euro. Manche sprechen schon von einem Wünsch-Dir-Was-Austausch. Ein Markt, der alles bietet, was Eltern und Kinder nachfragen.
Und auf diesem Markt kann man sehr reich werden. Vorgemacht hat das Bertil Hult, ein Schwede, der vor mehr als 50 Jahren selbst eine Zeit in England verbracht hat und dann ein Unternehmen gründete. Heute ist Hults “Education First” (EF) eine Aktiengesellschaft mit Sitz in der Schweiz und der weltweit größte Anbieter für Sommerkurse, Sprachschulen, aber auch Schüleraustausch. Bertil Hult lag 2014 laut dem Wirtschaftsmagazin Bilanz auf Platz 39 der reichsten Schweizer. Geschätztes Vermögen: rund 3,5 Milliarden Euro. 50 Jahre nach der Gründung hat EF weltweit nach eigenen Angaben 40.000 Mitarbeiter und 500 Büros und Schulen. Was Vereine wie YFU und AFS als Ehrenamt aufbauten, entdeckte Hult als Geschäftsmann: Sprache, Bildung, Kultur. Den Markt mit dem Traum von der Ferne. EF nennt seine Philospohie “Erlebnislernen”.
Doch heute ist dieser Markt in Deutschland hart umkämpft. Die Zahl der Schüler, die mindestens drei Monate an einer Schule im Ausland verbringen, geht im vierten Jahr in Folge zurück. Noch 2010/11 waren es laut dem Bildungsberatungsdienst Weltweiser rund 20.000 Jugendliche. 2014/15 nur noch 18.000.
Der Druck nimmt zu – eine Firma geht pleite
Seit Jahren durchlebt die Branche einen gewaltigen Bruch. Weniger Kunden, mehr Anbieter. Der Druck auf den Markt nimmt zu, die Preise steigen. So muss in diesem Sommer etwa der Stuttgarter Anbieter Southern Cross Insolvenz anmelden. Und die fünf großen Vereine um YFU oder AFS suchen zwar mit hohem Aufwand den überwiegenden Teil der deutschen Gastfamilie für ausländische Schüler, doch nur jeder fünfte Jugendliche geht mit diesen Vereinen ins Ausland.
Verbraucherschützerin Engler berät seit vielen Jahren Familien und Schüler. Gegen den Druck des Kommerz helfe vor allem, jene Anbieter zu stärken, die viel in Ehrenamt investieren, sagt sie. Doch auf der Messe in der Hamburger Schule ist es schwer, die Info-Stände der Ehrenamtler von denen der GmbHs zu unterscheiden. Auch Vereine locken mit markigen Sprüche: “In der Welt zu Hause” oder “Die Welt wartet auf Dich!”, auch hier lachen Jugendliche im Postkarten-Idyll.
Doch dann liest man diese ersten Sätze der YFU-Broschüre: “Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, als Schüler in China oder Brasilien zu leben? Oder Rumänien oder Finnland?” Eine Kalifornien-Garantie gibt es nicht. Stattdessen heißt es im Vertrag, den YFU mit Eltern abschließt, gleich am Anfang: “Zweck des Programms ist die Förderung der Völkerverständigung und die Friedenserziehung.”
Egal, welches Land: Hauptsache Englisch!
An fast allen Ständen auf der Messe bieten die Organisationen Reisen in die USA der nach England, Kanada und Neuseeland an. Hauptsache: Englisch ist die Landessprache. Die ersten sechs Plätze bei den beliebtesten Zielländern von deutschen Schülern sind englischsprachig. Nur damit lasse sich Geld verdienen, sagen fast alle in der Branche. Nur 160 Jugendliche besuchten 2014 eine öffentliche Schule Spanien, 100 nach Afrika und 65 nach China. Fast 7000 sind es in den USA.
Viel weiß Carl-Friedrich Seelig noch nicht von der Türkei. Dass Ankara die Hauptstadt ist und nicht Istanbul. Dass Istanbul dafür aber für ein Drittel des Bruttoinlandproduktes verantwortlich ist. So was. Er wolle mal “was anderes machen”, sagt der Schüler aus Ahrensburg. Anfang September ist er aufgebrochen, in eine türkische Gastfamilie, in eine türkische Schule. Noch spricht er kaum ein Wort Türkisch. Aber er freue sich schon auf den Moment, wenn er in einer Imbissbude zurück in Deutschland seinen Döner auf Türkisch bestellen kann.
Sein Vater hätte Carl-Friedrich geraten, nicht wie die meisten in die USA zu gehen. Er solle etwas Besonders machen. Georgien vielleicht. “Da hatte ich aber kein gutes Bauchgefühl”, sagt Carl-Friedrich. Also Türkei. “Uns war wichtig, dass unser Sohn mit einer gemeinnützigen Organisation fliegt”, sagt seine Mutter Janne Seelig. Von den kommerziellen Anbietern hätten sie von Missbrauch gehört. Dass dort eine Familie mehrere Kinder aufnimmt, zum Beispiel, und denen nur Kost und Logis bereitstellt, aber keine Gastfreundschaft.
Abenteuer Türkei – Carl-Friedrich geht ins Ausland
Ein Verwandter lobte dagegen die Vereine, war selbst in den USA. Also AFS. “Wir finden es auch gut, dass AFS mit unserem Geld ein Stipendium für Schüler mitfinanziert, die sich alleine keinen Austausch leisten können.” Und außerdem stehe die Völkerverständigung im Mittelpunkt, sagt die Mutter. Völkerverständigung. Da ist sie wieder. Carl-Friedrich ist das im Moment nicht so wichtig. “Das kommt von selbst.”
Nach ein paar Monaten in der Türkei gehe es ihrem Sohn sehr gut, erzählt die Mutter. Er habe viele Freunde gemacht, vor allem unter den anderen Austauschschülern, lerne aber auch Türkisch, besuche eine Schule. Im kommenden Jahr will die Familie in Ahrensburg selbst einen Schüler aus dem Ausland aufnehmen. Alle seien „begeistert“.
Sind Vereine die Guten, die freiwilligen Völkerverständiger mit den USA, mit Südafrika oder der Türkei? Und die Firmen die Bösen, die mit Kulturaustausch vor allem Geld machen wollen? Verbraucherschützerin Engler entgegnet klar: “Ob eine Organisation gemeinnützig oder kommerziell tätig ist, spielt für die Qualität des Austausches und die Preise erst mal keine Rolle. Vereine wie AFS gehören sogar zu den teureren Anbietern.” Auch Schüler in kommerziellen Programmen werden durch Betreuer vorbereitet und haben Hilfe vor Ort. Vieles, was an Auflagen für Schüler und Sicherheitsbestimmungen bei den Vereinen gelte, zähle auch für Firmen, sagt Engler.
Bela Borchardt, der Geschäftsführer der Firma One World, fragt: “Wieso sind Vereine wie YFU und AFS eigentlich genauso teuer wie Firmen, wenn dort doch vieles ehrenamtlich ablaufe und sie auch bei Steuern Vorteile haben?” Vereine werben mit ihrem Ehrenamt, bei manchen wirkt die Gemeinnützigkeit schon als Teil einer Marketing-Strategie.
Sind auch die Vereine nur Reiseunternehmen?
Michael Eckstein ist Gründer der “Deutschen Stiftung Völkerverständigung” und Veranstalter von Messen wie der in der Hamburger Schule. Er zweifelt sogar daran, ob Jugendaustausch überhaupt gemeinnützig sein sollte. Zwar seien die politischen Ziele wichtig, er selbst werbe immer für Polen als Zielland. Doch eigentlich seien auch die Vereine nur Reiseunternehmen.
An einem Tag im Januar, nachdem Terroristen die Welt wieder einmal in Schock und Wut versetzten, steht Eckstein im „Oak Room“ des Grand Elysée Hotels am Dammtor. Das Licht der Leinwand leuchtet auf Ecksteins Jackett. Er organisiert nicht nur Messen, er veranstaltet auch das “Jugendaustausch-Forum”. Wer teilnehmen will, zahlt Ecksteins Stiftung 300 Euro, Frühbucher 200 Euro. Unternehmer sind gekommen, Vereinsmitglieder, Lehrerinnen, Professoren, Botschaftsmitarbeiter. Wichtige “Player” auf dem Austauschmarkt, wie einer sagt. Und hier im Hotels kennt seit gestern jeder die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo. Eckstein sagt deshalb gleich zu Beginn: „Die Bedeutung des Jugendaustauschs ist aktueller denn je. Ich bitte Sie um 60 Sekunden des Gedenkens an die Opfer der Attentate in Paris.“
In Hamburg wollen sie nun reden über ihre Branche im Umbruch, über den Druck und die politischen Zwänge. Und über die Chance auf gemeinsame Wege zwischen Kommerz und Kultur. Die Stimmung ist gut, die Diskussionen sachlich. Und doch bilanziert Professor Andreas Thimmel aus Köln am Ende der Tagung: Ist Kooperation zwischen Gemeinnützigen und Kommerziellen möglich? Bisher kaum.
Jeder ist sein eigener Lobbyist
Auch auf Tagungen wie dieser bringt sich jeder in Stellung: Die großen Vereine haben sich in einem Verband zusammengeschlossen, mit Sitz in Berlin und guten Verbindungen ins Auswärtige Amt. Firmen ziehen nach und gründen eigene Verbände mit Sprechern, private Berater kooperieren mit Schulen im Ausland. Jeder ist sein eigener Lobbyist.
Und sie werben um Schüler. Jugendliche lernen im Ausland eine Sprache, leben in einer neuen Familie. Kultur, Sport, Abenteuer, Spaß, darum geht es vielen. Und den Eltern geht immer mehr auch um Sicherheit für das eigene Kind, das für ein Jahr in die Ferne zieht. Allein, zu einer fremden Familie. Da kann viel schiefgehen.
Nach einer Studie des US-Außenministeriums waren im Jahr 2000 fast ein Fünftel aller amerikanischen Gastfamilien von ausländischen Vermittlern nicht “adäquat durchgecheckt und ausgewählt”. In Internetforen häuften sich Beschwerden von Jugendlichen über die schlechte Betreuung vor Ort. Es kam zu Fällen von Missbrauch, einzelne Eltern klagten gegen deutsche Organisationen. Die Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder stieg. Das war nicht gut für die Idee des Austauschs, das war aber auch nicht gut fürs Geschäft.
Die Politik musste handeln. Die Auflagen der US-Behörden wurden den vergangenen Jahren strikter, für Vereine und Firmen. Und die wiederum verschärften daraufhin die Regeln für ihre Teilnehmer.
Wer nicht in die Schablone passt, hat es schwerer
Manche warnen nun: Wer nicht in die Schablone des guten Schülers passt, wird ausgegrenzt. Echter Kulturaustausch droht im Gewirr von Paragrafen, Richtlinien und Geschäftsbedingungen zu versinken. Um zu verstehen, welche enormen Brüche im Schatten der Hochglanz-Prospekte auf die deutschen Organisationen zukommen, muss man kurz eintauchen in die Welt der Paragrafen für die Visa-Vergabe.
“J1”, so heißt das Visumsprogramm, das Generationen von Jugendlichen bei der amerikanischen Botschaft beantragt haben. Es ist so etwas wie die Nivea-Dose unter den Dokumenten, alles staatlich geprüft, mit strengen Auflagen. Über ihre Partnerorganisationen checkt das US-Außenministerium den Hintergrund jeder einzelnen Gastfamilie, holt Gutachten von der Schule ein, fordert ein Führungszeugnis von der Polizei ein. Jede Familie verpflichtet sich, für den Schüler zu sorgen, sei es Abendessen oder Transport zur Schule. Und alles ehrenamtlich.
Wer Depressionen oder andere Auffälligkeiten hat, hat kaum eine Chance
Doch Familien, die das alles ohne Geld durchlaufen wollen, werden schwieriger zu finden. Deshalb steigt der Aufwand bei den Organisationen auf der Suche nach Familien – das gilt für Vereine wie für Firmen. Damit Schüler schneller an Gasteltern und Schulen vermittelbar sind, machen die meisten ihnen Auflagen: mindestens ein Notendurchschnitt von 3,0, eine 5 im Zeugnis wird zum Problem. Auch Jugendliche, die unter Asthma oder Allergien leiden, haben es schwer. Wer Depressionen, Essstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten hat, erhält kaum eine Chance. Klauseln in den Verträgen und Benimmregeln machen es Organisationen möglich, Schüler bei Verstößen sofort nach Hause zuschicken, anstatt eine neue Familie zu suchen. Das Abenteuer ist beendet, das Geld meist trotzdem weg.
Die Qualität ist besser – aber wer profitiert?
Verbraucherschützerin Engler berichtet auch im aktuellen Austauschjahr über einige Beschwerden. Ein Mädchen sei nach Hause geschickt worden, weil sie unter Appetitlosigkeit leide. Dabei hätten zwei Ärzte – ein deutscher und ein amerikanischer – bescheinigt, dass keine krankhafte Magersucht vorliege. Trotzdem war das Risiko für das Austauschunternehmen zu hoch – und das „Abenteuer Ausland“ beendet.
Fallen Kinder hinten über, die nicht in die Maxime von Berechenbarkeit und Risikoabschätzung passen? Wie Bastian Zipfel vom deutschen Ableger der Schweizer Firma “Education First” sagen heute fast alle, die Qualität des Austauschs habe sich gegenüber den Neunziger Jahren stark verbessert. Nur in etwa fünf Prozent aller Reisen brechen Schüler laut ABI e.V. den Austausch vorzeitig ab. Aber wer reist in die USA?
Im vergangenen Schuljahr reisten 25.211 Schüler aus aller Welt mit dem J1-Visum in die USA, um dort eine Schule zu besuchen. Die meisten kommen noch immer aus Deutschland, auch wenn die Zahl leicht auf knapp 6000 Kinder zurückging.
Für die Ehrenämtler gibt es eine neue Konkurrenz
Doch mittlerweile bekommt das J1-Programm eine Konkurrenz: “F1”, so heißt das Visum, das in den USA immer beliebter wird. Der Staat erteilt einzelnen Schulen Lizenzen. Und die dürfen dann selbst entscheiden, welche Schüler sie bei sich unterrichten wollen. Meist vermitteln private Organisationen oder Berater Schulen und Gastschüler. Auch hier gibt es Auflagen wie ärztliche Atteste, doch verantwortlich für die Standards sind vor allem die Organisationen. Nicht der Staat.
Und jeder profitiert: Die Schule erhält eine Gebühr für den Auslandsschüler, die Gastfamilie bekommt eine Art monatlichen Lohn, umgerechnet zwischen 350 und 800 Euro. Je dringender Gastfamilien benötigt werden, desto höher der Lohn, sagen Branchenkenner. Für die USA verlangen die Organisationen Gesamtpreise zwischen 16.000 Euro und 25.000 Euro. Je beliebter der Bundesstaat, desto teurer. Ein Austausch könne aber auch bis zu 50.000 Euro kosten, sagt Messe-Veranstalter Eckstein. Die Vier-Sterne-Schule in Neuseeland, zum Beispiel.
Lizenz zum Geldmachen
Das F1-Visum ist so etwas wie die Lizenz zum Geldmachen für amerikanische Schulen und Familien. Wo der Staat die Schul-Budgets kürze, fließe der Umsatz aus dem Austausch an US-Schulen in neue Computer oder die Renovierung der Sporthalle, sagt etwa Claus Kunze vom Dachverband High School e.V., ein Zusammenschluss von 13 privaten Anbietern.
Mit dem F-1 Visum besuchten im Schuljahr 2014/15 insgesamt 7.452 Schüler weltweit eine amerikanische Schule, gegenüber dem Vorjahr mit 4.185 Schülern, was einen Zuwachs von 78 bedeutet. Aber nur 148 kamen aus Deutschland. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen dagegen aus China, viele aus Korea oder den arabischen Staaten.
Der Schüleraustausch hat erreicht, dass die Welt sich kennenlernt. Die junge Generation tickt global. Doch auch das Geschäft funktioniert längst global. Und in den USA, dem Land, das einst mit der Idee des Austauschs den Frieden in die Welt tragen wollte und das noch heute so beliebt ist bei deutschen Schülern, geht der Austausch immer stärker den Weg des Geldes.
Knut Möller von YFU klagt: Das verschärfe die Kluft zwischen arm und reich, zwischen einem global gebildeten Bürgertum und einer Unterschicht, die das Ausland vor allem aus TV-Serien kennt. Fast ausschließlich Gymnasiasten reisen für ein Jahr ins Ausland. Laut einer Studie tritt nur ein Prozent aller Hauptschüler ein Leben im Ausland an, bei den Gymnasiasten ist es jeder Achte. Ähnlich verteilen sich die Quoten bei Familien mit sehr hohem und sehr niedrigem Einkommen.
Tut der Staat zu wenig?
Vereine vergeben Stipendien für ärmere Familien, auch Messeveranstalter Eckstein finanziert mit Stiftungsgeld Zuschüsse für Schüler. Aus Sicht von Knut Möller von YFU reicht das aber nicht. Zwar fördert der Staat durch Bafög den Austausch von Kindern aus einkommensschwachen Familien, dennoch fordert Möller staatliche Stipendienprogramme.
Dabei profitieren bisher vor allem Vereine wie YFU und AFS von Investitionen des Staates in den Austausch. Seit Anfang der 1980er Jahre geben Bundestag und US-Kongress jährlich fast vier Millionen Euro für das Parlamentarische Partnerschaftsprogramm (PPP) aus. 700 junge Menschen erhalten ein Stipendium, kommen bei Familien unter, besuchen eine Schule oder absolvieren eine Ausbildung im jeweils anderen Land. Vereine organisieren das und erhalten Geld vom Staat – eine verlässliche Förderung, mit der auch Büros und Mitarbeiter finanziert werden.
Doch 2014 erschüttert eine Nachricht aus den USA die Vereine. Der Kongress hatte angekündigt, das Geld für das PPP zu streichen. Man wolle sich auf Staaten wie China, den Nahen Osten konzentrieren, wo die USA bis heute in Konflikte verwickelt ist. Was braucht es noch Völkerverständigung mit den Deutschen? Über viele Monate sammelten Schüler online Unterschriften gegen die Kürzungen. Politiker wie der Hamburger Bundestagsabgeordnete Jürgen Klimke (CDU) versuchten zu intervenieren. Und die Vereine machten Druck, schließlich geht es um eine Menge Geld.
Austausch ist ein Politikum
Die neue Strategie der USA macht deutlich: Schüleraustausch ist ein Instrument für Frieden und Verständigung, etwa mit arabischen Staaten. Austausch ist auch ein Politikum.
Gleichzeitig zwingen Entscheidungen der Politik die Austausch-Branche zum Wandel. Seit 2008 entschieden sich immer mehr Bundesländer für einen kürzeren Weg zum Abitur. Das Gymnasium dauert nur noch zwölf Jahre. Vorher nutzten Jugendliche vor allem die 11. Klasse für eine Auszeit im Ausland. Doch der Jahrgang fiel weg, Lehrstoff wurde zusammengepresst. Und damit auch die Zeit für ein Leben in der Ferne.
Eckstein hat eine Umfrage in der Austausch-Branche gemacht. Und er sieht “heftige Auswirkungen” durch die kürzere Schulzeit am Gymnasium. Die Schüler, die ins Ausland gehen, werden immer jünger. Und Schüler würden nun nur noch ein paar Monate ins Ausland gehen.
Und so erkundigen sich immer mehr Eltern nach einem Austausch “light”: zwei Monat an einer Schule in Kanada, ein Monat an einem schottischen Internat, zwei Wochen Sommercamp in den Ferien. Die Branche hat darauf reagiert, zuerst und am stärksten die kommerzielen Anbieter. Bei Vereinen wie YFU und AFS heißt es, dass man aus Überzeugung vor allem langfristigen Austausch anbiete. Das Einleben in eine neue Familie, in eine Kultur brauche Zeit. Doch auch dort passt man nun die Angebote der Nachfrage an: sechs Wochen Costa Rica, inklusive Sight-Seeing-Tour, oder ein Sommercamp in der Türkei. Alte Dogmen knicken ein vor der Macht des Marktes.
Marie lebt ein Jahr lang in den USA
Marie Wilde ist nicht nur für ein paar Wochen ins Ausland gegangen, sondern für ein Jahr in eine Familie in Nebraska, irgendwo im Mittleren Westen, Maisschäler-Staat nennen sie sich dort. Marie ist 16 Jahre alt. Sie und ihre Eltern hätten sich einen Haufen Kataloge bestellt und dann seien zwei, drei Anbieter übrig geblieben. Mitarbeiter von „EF“-Sprachreisen hakten nach und boten einen Info-Tag an. Am Ende habe sie dort gleich ein Bewerbungsgespräch gemacht, erzählt Marie. Irgendwie kam das eine zum anderen. „Die Preise und Angebote ähneln sich doch überall“, sagt Mutter Hester Wilde. Marie sagt: „Bei EF konnte ich mich gleich in WhatsApp-Gruppen mit anderen austauschen, die auch ins Ausland gehen.” Diesen Service nutze sie sehr viel.
Der Grundpreis für das Jahr mit EF lag bei gut 10.000 Euro. Die Wildes zahlen jetzt 12.412 Euro. Dazu kamen noch die Reiserücktrittsversicherung, Gebühren für das Visum und eine Sportversicherung. Und 1180 Euro Währungskostenzuschlag. „Wir hatten darüber im Vertrag gelesen, aber ich habe mir keine Gedanken gemacht“, sagt Hester Wilde. Die Eltern waren über die Rechnung überrascht. Gezahlt haben sie es doch. Bald soll die Reise ihrer Tochter losgehen. Was bleibt da schon an Alternativen? Mittlerweile steht der Dollar so ungünstig, dass EF und andere Anbieter auf ihrer Internetseite bereits gleich offen sichtbar für die USA 1200 Euro zusätzlich zu den Programmkosten veranschlagen.
Jeder Austausch beginnt mit dem Kleingedruckten
Und so beginnt jede Austauscherfahrung wie eine Urlaubsreise mit einem Vertrag, mit Klauseln und Kleingedrucktem. Und einzelne Erfahrungen enden böse – wenige sogar mit einem Rechtsstreit vor Gericht. Verbraucherschützerin Barbara Engler sagt: “Qualität zeigt sich durch Standards.” Wie Engler sagen Vertreter von Firmen und Vereinen aber auch, dass alles noch so reibungslos ablaufen könne, mit der Schule, der Nachbarschaft und der Gastfamilie. Eine Garantie dafür, dass sich zwei Menschen verstehen, gebe es nie.
Und dafür, dass sich Völker verstehen? Als der US-Kongress die zwei Millionen Dollar für den Austausch mit Deutschland einstrich, soll sogar die Kanzlerin bei Präsident Obama für den Erhalt des Programms geworben haben. Dann kam der NSA-Abhörskandal, die Deutschen empörten sich über die US-Geheimdienste, die ihre Emails und Telefonate speicherten. Im Juni zog der US-Kongress überraschend die Kürzungen zurück. Hinter den Kulissen heißt es: Wohl nicht ganz zufällig ist der Rückzug in eine Zeit nach dem NSA-Abhörskandal gefallen. Etwas Völkerverständigung zwischen beiden Staaten könne jetzt nicht schaden.