Fachleute erklären, was Betroffene nach dem Verlust eines Menschen durchleben und wie man sie unterstützt. Beispielsweise ist es wenig hilfreich, Trauerreaktionen als richtig oder falsch zu bewerten.
Die Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen sind sehr unterschiedlich. „Ich vertraue dem Leben nicht mehr“, sagt eine 62 Jahre alte Frau, nachdem ihr 30-jähriger Sohn an einem plötzlichen Herztod gestorben ist. „Letzten Sonnabend hatte ich zum ersten Mal wieder einen Blick für Farben“, sagt eine andere Frau, deren Ehemann nach 26-jähriger Ehe an Krebs starb und die nach sieben Monaten Trauer nun eine bunte Bluse trägt. „Irgendwie komme ich jetzt besser mit dem Tod meiner Frau zurecht“, sagt ein Witwer nach etlichen Monaten. „Aber immer kann ich es nicht ertragen.“
Es ertragen, das Unfassbare, Unbegreifliche – den Tod. Er wird meist verdrängt, der Gedanke daran auf später verschoben. Zwar haben Krimis häufig hohe Einschaltquoten, aber mit dem wirklichen Sterben – damit beschäftigen sich die meisten Menschen ungern. Erinnern diese Themen ebenso wie trauernde Menschen doch auf allzu verunsichernde Weise immer auch an die eigene Endlichkeit.
Anja Dose und ihre drei Fachkolleginnen von der Beratungsstelle Charon in Winterhude haben täglich mit pflegenden Angehörigen und Trauernden und deren Angehörigen zu tun. Bereits am Eingang des Hauses Nummer 29 im Winterhuder Weg steht: Beratungsstelle Charon – Hilfen im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer.
Wenig hilfreich ist es, Trauerreaktionen als richtig oder falsch zu bewerten
„Zu uns kommen Menschen aus allen Berufs- und Altersgruppen. Viele sagen: Es tut so gut, dass ich hier reden kann, ohne dass ich meine Familie und Freunde mit meinem Schmerz und meiner Trauer belaste“, sagt Anja Dose. Die Pädagogin arbeitet seit zehn Jahren in der 1989 gegründeten Beratungsstelle. Die Hilflosigkeit und Unsicherheit gegenüber trauernden Menschen sei groß. Auch der Trauernde selbst ist oft unsicher in dieser Ausnahmesituation. Aber die Trauerbegleiterin stellt mit Nachdruck klar: Trauer ist keine Krankheit. Sie bedeutet Krise. „Trauer ist eine menschliche Fähigkeit, eine normale Reaktion auf einen bedeutsamen Verlust. Sie ist zugleich ein Bemühen der Seele, das Geschehene zu begreifen.“ Denn der Tod eines nahen Menschen ist eine existenzielle Herausforderung. Dabei sei Trauer ein zutiefst individueller Prozess, den jeder Mensch unterschiedlich erlebt. Deshalb sei es auch nicht hilfreich, Trauerreaktionen im Sinne von richtig oder falsch zu bewerten. Dose: „Trauer ist viel mehr als traurig sein. Trauer ist ein Prozess, eine zu gestaltende Anpassung an die neue Lebenssituation, und drückt sich in häufig widersprüchlichen Empfindungen aus wie Angst, Wut, Schuldgefühle, Misstrauen, Überforderung, Suche nach Nähe, aber auch Erleichterung und sogar Zuversicht gehören dazu.“ Das Spektrum an Reaktionen auf einen schmerzhaften Verlust sei groß und umfasse emotionale, soziale, körperliche, aber auch intellektuelle Reaktionen, wie den vorübergehenden Verlust von Fähigkeiten. Anja Dose berichtet von einer Klientin, die täglich im Multitasking durchs Leben ging und nach dem Tod ihres Partners an Konzentrationsstörungen litt. „Ich bin mir ganz fremd so“, sagte die Frau. Andere Klienten berichten bei den Beraterinnen über ihr ungewohnt gereiztes und aggressives Verhalten. Manche brechen mit ihren bisherigen Lebensgewohnheiten, andere stürzen sich in Aktivismus. Während die einen beginnen, das Haus zu renovieren, erleben andere die Trauer wie Erstarrung und Stillstand.
Wie lange es braucht, um mit dem Tod eines geliebten Menschen wieder einigermaßen weiterzuleben, kann niemand sagen. Häufig reicht das sogenannte Trauerjahr, das ebenso wie viele hilfreiche Rituale heutzutage an Akzeptanz eingebüßt hat, nicht aus. Manche Menschen brauchen Jahre, um wieder am Leben teilhaben zu können.
Trauer ist mittlerweile gut erforscht, und nach gesicherten Erkenntnissen stellen sich Trauernden vier Aufgaben: Dazu gehört, den Verlust als Realität zu akzeptieren. Selbst bei einem absehbaren Tod eines sehr kranken oder alten Menschen kann das Gefühl bei den Angehörigen entstehen, das Geschehene sei nicht wahr. „Mein Verstand weiß es, aber mein Herz kann es nicht begreifen, dass er (oder sie) nie wieder da sein wird“ – diesen Satz hören die Beraterinnen von Charon oft. Ein bewusstes Verabschieden vom Verstorbenen, das Ansehen und Berühren des Toten kann hilfreich sein. Anja Dose: „Das ist eine Chance, den Tod zu begreifen – auch sinnlich.“
Für den persönlichen Abschied sollten sich Hinterbliebene genügend Zeit nehmen, rät Bestatterin Angelika Westphal. „Stirbt jemand in der Nacht, reicht es, wenn man am nächsten Morgen den Arzt bittet zu kommen, um offiziell den Tod festzustellen.“ Und auch danach bleibt Zeit für das Abschiednehmen.
Eine weitere Aufgabe der Trauer ist, den Trauerschmerz zu erfahren und auszudrücken. „Dies ist oft schwierig, da Gefühle von Trauernden vom Umfeld meist als unangenehm betrachtet und oft mit vorschnellem Trost, der nicht wirklich tröstet, beschwichtigt werden“, sagt Dose.
Die dritte Aufgabe besteht darin, sich an eine Umwelt anzupassen, in der der Verstorbene fehlt. Weihnachten, eine erste Geburtstagseinladung, Urlaub machen ohne den anderen, für alles plötzlich alleine verantwortlich zu sein – das sind Herausforderungen, vor denen Trauernde stehen. Zur vierten Aufgabe gehört, dem Verstorbenen, der außen fehlt, einen neuen sicheren Platz im Inneren zu geben und sich dem Leben zuzuwenden. Anja Dose: „Dabei hilft die Erinnerung an die positiven und negativ erlebten Seiten des Verstorbenen, an sein Leben und Sterben, an die Beziehung zu ihm und den Abschied von ihm. Mit dem anderen im Herzen können neue Beziehungen gewagt werden.“ Dabei wiege die Angst vor einem neuen Verlust bei vielen Menschen schwer.
Trauernde brauchen eine unterstützende Haltung ihrer Mitmenschen. Dazu gehören Akzeptanz, Anteilnahme, Aushaltenkönnen sowie aktive An- und Zusprache. Ratschläge wie „Das Leben muss weitergehen“, „Der Verstorbene war doch schon sehr alt“ oder „Wie lange willst du denn noch trauern?“ sollte man unbedingt vermeiden. „Auch der Verlust sehr alter Eltern ist ein bedeutsamer Verlust“, sagt Dose. Klienten berichten in diesem Zusammenhang jedoch immer wieder, dass ihre Trauer auf wenig Verständnis stößt.
Angehörige und Freunde können zuhören und Angebote wagen
Trauernde sind Experten in eigener Sache, und kein Außenstehender weiß, was für sie richtig ist. „Man kann als Angehöriger, Freund oder Kollege nur zum Erzählen ermutigen und einladen“, sagt Anja Dose. Der Satz „Ruf mich an, wenn du mich brauchst“ sei gut gemeint, aber wenig hilfreich, denn Trauernde können oft nicht klar benennen, was sie brauchen. Sinnvoller sei es, selber anzurufen, nachzufragen, Angebote zu wagen, zuzuhören und ein verlässliches Gegenüber zu sein. Immer wieder neu. Das meint Aushaltenkönnen.
Und wie lange kann der Schmerz dauern? „Die anfängliche Gefühlsachterbahn weicht langsam einer Art Wellenbewegung in der Trauer“, sagt Trauerbegleiterin Dose. „Gute Stunden und schlechte Momente können im Wechsel erlebt werden.“ Auf dem inneren Weg der Bewältigung können auch die Fragen helfen: „Was und wer gibt mir Kraft? Wo oder wobei wird es friedlicher in mir?“ Das kann in der Natur, im Beisammensein mit Freunden, beim Musikhören oder Musizieren, aber auch in der Zwiesprache mit dem Verstorbenen am Grab sein.