Durch genetische Untersuchungen von Pflanzen hat eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe eine veränderte Systematik des Pflanzenreichs erstellt. Der Botanische Garten der Universität Hamburg zeigt 54 Ordnungen mit 650 Arten in Form einer großen Uhr.
Hamburg Mit dem Buchsbaum ist das so eine Sache. „Der wurde in den letzten Jahren fünfmal umgruppiert“, sagt Dr. Carsten Schirarend. Nicht, dass der immergrüne Strauch im Loki-Schmidt-Garten, dem Botanischen Garten der Universität Hamburg in Klein Flottbek, seinen Standort hätte wechseln müssen. „Die Wissenschaft ist sich nur nicht sicher, wo die relativ alte Gattung der Buchsbaumgewächse systematisch korrekt einzuordnen ist, zumal ihre ‚Nachbarn‘ ausgestorben sind.“ Bei 90 Prozent der Pflanzen, so der wissenschaftliche Leiter des Gartens, kenne man die Stellung im Verwandtschaftsgeflecht. Nur zehn Prozent seien schwer zu fassen. Mit ein Grund, warum es immer neue Ansätze gibt, das System mit neuen Methoden auf den Prüfstand zu stellen. Molekulargenetische Untersuchungen der Samenpflanzen haben jetzt zu einer Gliederung geführt, die der Botanische Garten mit einer neuen Anlage präsentiert.
„Phylogenetische Uhr“ nennt sich der neue Bereich (die phylogenetische Systematik versucht, die stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsbeziehungen der Arten zu klären). Er ist in den vergangenen zwei Jahren dort entstanden, wo vorher die 4,5 Hektar große, alte Systemanlage zu sehen war. Diese war nach den Vorstellungen des russischen Pflanzensystematikers Armen Takhtajan aus den 1950er-Jahren gestaltet. „Ein Umbau war schon deshalb notwendig geworden, weil sich im Zuge der molekularsystematischen Forschung grundlegende Veränderungen in der verwandtschaftlichen Zuordnung vieler Pflanzen ergeben hatten“, erläutert Schirarend. Zudem waren Bäume und Sträucher über die Jahre so hoch geworden, dass eine Gesamtübersicht immer schwieriger wurde.
Die Methode, nach der die neue, knapp 3000 Quadratmeter große und tatsächlich uhrenförmige Anordnung von 650 Pflanzenarten aus 54 Ordnungen entstanden ist, geht auf die Vorstellungen eines internationalen Forscherteams zurück. Seit Beginn der 1990er-Jahre hatte sich die sogenannte Angiosperm Phylogeny Group (kurz APG) um den Engländer Mark Chase mit molekulargenetischen Untersuchungen von Samenpflanzen befasst. Der Botanikprofessor, der in den Royal Botanik Gardens, Kew, südwestlich von London arbeitet, und seine Mitstreiter publizierten drei aufeinander aufbauende Entwürfe für die Gliederung der Samenpflanzen. Der letzte von 2009 gilt als vorläufiger Abschluss des Projektes – „auf ihn bezieht sich auch unsere Gestaltung“, sagt Schirarend. Demnach werden die bedecktsamigen Blütenpflanzen gegenwärtig in 65 Ordnungen und 413 Familien untergliedert.
Die Einteilung ist im Loki-Schmidt-Garten am besten vom zentralen Mittelrund der Anlage, das wie eine Uhr mit den römischen Ziffern eins bis zwölf versehen ist, zu erkennen: Die vier großen Sektoren werden durch feste Wege voneinander getrennt, Kieswege gliedern die Unterklassen. Das sind die Hauptbereiche:
Sektor I (0–3 Uhr),
300–150 Millionen Jahre
Hier sind fünf Klassen zusammengefasst, die sich durch ein sehr hohes phylogenetisches Alter auszeichnen. Das heißt, ihre Hauptentfaltungszeit lag vor mehr als 150 Millionen Jahren. „Viele Vertreter dieser urzeitlichen Klassen sind seitdem ausgestorben, sodass die heute lebenden Familien, Gattungen und Arten verwandtschaftlich zum Teil völlig isoliert sind und als lebende Fossilien angesehen werden können“, erläutert Schirarend. Mit dem Ginkgo findet sich hier die älteste Art (300 Millionen Jahre); insgesamt zählen 5000 bis 6000 Arten zu diesem Bereich. Bekanntere Ordnungen: Kiefernartige, Palmfarne, Seerosenartige, Magnolienartige.
Sektor II (3–6 Uhr),
160–80 Millionen Jahre
Dieser Bereich ist dem etwa 40.000 Arten umfassenden Verwandtschaftskreis der Einkeimblättrigen gewidmet. Wie der Name schon sagt, zeichnen sie sich vor allem – im Gegensatz zu den Zweikeimblättrigen – durch ein einzelnes Keimblatt aus. Entstanden sind die Einkeimblättrigen vor etwa 150 Millionen Jahren als urtümliche Vertreter der basalen Zweikeimblättrigen. Nach letzten Befunden gliedert sich dieser Bereich in elf Ordnungen, darunter die Kalmusartigen, die Lilienartigen, die Palmenartigen und die Gräserartigen.
Sektor III (6–9 Uhr),
130–70 Millionen Jahre
Sektor III repräsentiert den mehr als 20 Ordnungen und etwa 100.000 Arten umfassenden, vor 120 Millionen Jahren entstandenen „Mittelbau“ der modernen Zweikeimblättrigen. „Eines der wichtigen, gemeinsamen Blütenmerkmale ist unter anderem die Ausbildung einer in Kelch und Krone gegliederten Blütenhülle mit freien, also nicht verwachsenen Kronblättern. Allerdings werden die Basismerkmale vielfältig variiert, sodass man diesen Sektor als Probierstube der Evolution betrachten kann“, erklärt Schirarend. Ordnungen, die hierzu zählen, sind unter anderem die Hahnenfußartigen, die Buchsbaumartigen, die Hülsenfrüchtler und die Rosenartigen.
Sektor IV (9–12 Uhr),
100–50 Millionen Jahre
„Den letzten Abschnitt, Sektor IV, haben wir als Oberbau der Zweikeimblättrigen oder auch Dikotylen bezeichnet. Er steht für die zwölf am stärksten abgeleiteten und phylogenetisch jüngsten Ordnungen der Dikotylen und repräsentiert ebenfalls etwa 100.000 Pflanzen“, sagt Carsten Schirarend. Wichtige Entwicklungstendenzen seien in dieser Zusammenfassung der allgemeine Übergang zu krautigen Wuchsformen, und dass die Pflanzen oft gegenständige Blätter besäßen. Schirarend: „Außerdem werden die Blüten teils sehr klein und vereinen sich zu komplexen Blütenständen, wie Dolden oder Köpfchen.“ Die Ordnungen der Heidekrautartigen, der Lippen- und der Doldenblütler gehören etwa hierzu.
Wie waren die Botaniker zu ihrer neuen Einteilung gekommen? „Die Arbeit der Gruppe basiert auf der Erkenntnis, dass sich im genetischen Material, der DNA, im Verlauf der Entwicklungsgeschichte in zunehmender Zahl Mutationen, also genetische Veränderungen ansammeln“, so Schirarend. Diese genetischen Fehlstellen, die praktisch in jedem lebenden Organismus zu finden seien, könnten also nicht nur für die Bestimmung der verwandtschaftlichen Distanz, sondern durch die Mutationsrate auch für die Altersdatierung genutzt werden.
Aus Sicht der klassischen Systematik findet es Carsten Schirarend bemerkenswert, dass die Ergebnisse der AGP zum einen den „Roten Faden“ der Blütenevolution weitestgehend bestätigen: „Die Blütenevolution galt seit Langem als die wichtigste Grundlage für die Gliederung des Pflanzenreichs. Die molekulargenetischen Untersuchungen haben nun nach den Blütenmerkmalen als sehr ursprünglich eingestufte Pflanzengruppen, zum Beispiel Magnolien und Seerosen, ebenfalls als phylogenetisch und ursprünglich erwiesen.“
Zum anderen habe die neue Systematik auch eine Reihe von zum Teil sehr großen „Sammelgruppen“ hervorgebracht, die bisher kaum durch gemeinsame äußerliche Merkmale zusammengehalten werden. Hier werde sich noch zeigen müssen, ob diese Gruppen auf Dauer Bestand hätten, so der Leiter des Gartens.
Davon unabhängig wird die systematische Einordnung aber wohl auch in Zukunft mit neuen Methoden überprüft und gegebenenfalls verändert werden. Alleine durch die wachsenden technischen Möglichkeiten, wie Schirarend sagt: „Als Mark Chase und Kollegen ihre Forschung begannen, Anfang der 1990er-Jahre, waren die Computerkapazitäten noch gar nicht so weit, um ihre Datenmengen zu verarbeiten.“
Vorerst steht jetzt erst einmal der Ginkgo auf zwölf Uhr, zu Beginn des Sektors I, und in einer Stunde gelangt man von ihm über 250 Millionen Jahre ganz an das Ende des Sektors IV und dort zum Moosglöckchen (Linnaea borealis), der Lieblingspflanze des Vaters der modernen Botanik, Carl von Linné. Carsten Schirarend hofft, dass die Besucher diese Reise nachvollziehbar und spannend finden werden – und vielleicht einen guten Vorschlag für einen anderen Namen für die Anlage machen. „Phylogenetische Uhr finde ich ehrlich gesagt noch etwas sperrig.“