Die scheuen Wiesenvögel lassen sich kaum sehen. Wer sie erleben will, muss seine Ohren spitzen. Aber nachts sind sie durch ihre charakteristischen Rufe gut zu hören.
Hamburg. Die kniehohe Wiese ist noch nass vom letzten Schauer, leichter Wind streicht kurz vor Mitternacht über die Naturschutzfläche in Gut Moor, dem Hamburger Stadtteilchen am östlichen Zipfel Harburgs. Einer Handvoll Vogelfreunde können die unwirtlichen Bedingungen nichts anhaben, sie machen sich auf die Pirsch ins Reich des Wachtelkönigs. Einige Kilometer westwärts, in Neugraben-Fischbek, hatte der rebhuhngroße, unscheinbare Vogel 1997 den geplanten Bau von 3500 Wohnungen gestoppt. Ihre Zahl wurde auf 1250 abgespeckt, ein 600 Meter langes Straßenstück „Zum Wachtelkönig“ erinnert an den Streit. Heute herrscht Ruhe an dieser Front. Nur der Vogel selbst kann seinen Schnabel nicht halten.
Die bedrohten Wachtelkönige leben heimlich, streifen flink in dichter Deckung zwischen Grasbüscheln umher. Wer sie erleben will, muss seine Ohren spitzen: Nachts lassen die Männchen lautstark ihren charakteristischen Ruf hören. Er erinnert an eine Fan-Ratsche, die bei Fußballspielen rotierend Knattergeräusche erzeugt, nur dass der Wiesenvogel in Stakkato ratscht – nicht umsonst trägt er den lateinischen Namen Crex crex. Nach der neuesten Erhebung des Arbeitskreises der Staatlichen Vogelschutzwarte gibt es in Hamburg rund 70 Wachtelkönig-Reviere. Die zwei Verbreitungsschwerpunkte liegen im Moorgürtel (Neugraben-Fischbek) und in Gut Moor.
Am liebsten rufen Wachtelkönige in warmen, windarmen Nächten von Mitte Mai an, um ihr Revier zu markieren und Weibchen anzulocken. Stimulierend wirken die Rufe weiterer Männchen in der Umgebung, weil die Mehrstimmigkeit besonders attraktiv für die Damenwelt ist. „Wenn wir Glück haben, werden wir fünf bis sechs Rufer hören“, sagt Dr. Gisela Bertram zu Beginn der Exkursion. Sie ist Geschäftsführerin der Stiftung Ausgleich Altenwerder, der die zwei Naturschutzflächen in Gut Moor und Klein Moor gehören. In einer gut einstündigen Wanderung sollen die abgehört werden. Und noch während sie dies sagt, ist der erste Vogel zu hören – ein gelungener Auftakt.
Gisela Bertram erkundet einmal im Jahr, ob Wachtelkönige in den Stiftungswiesen residieren. Jede ist gerade einmal ein Hektar groß, dennoch ist eine Bestandsaufnahme ein schwieriges Unterfangen. Denn die Männchen wechseln gern ihren Standort, wuseln rufend durch die Wiese. Das könnte zu Doppelzählungen führen. Deshalb ist es gut, wenn sich – vom Wiesenrand aus – gleichzeitig mehrere Rufe vernehmen lassen. Und tatsächlich: Die Exkursionsteilnehmer können schon am ersten Halt mit gespitzten Ohren drei rufende Wachtelkönige unterscheiden. Im vergangenen Sommer hat Bertram, studierte Botanikerin, sogar einen Vogel zu Gesicht bekommen: „Ich war tagsüber dabei, Pflanzen zu kartieren. Plötzlich flog ein Wachtelkönig auf. Das tat mir zwar leid für ihn, aber für mich war das ein wohl einmaliges Erlebnis.“
Brachflächen und extensiv bewirtschaftete Wiesen mit späten Mähterminen im August sind für den Wachtelkönig, der wissenschaftlich korrekt als Wiesenralle bezeichnet wird, existenziell. Wie alle Rallen brütet er am Boden. Gleich nach der Eiablage trennt sich das Paar wieder, und das Männchen ruft nach der nächsten Braut, während das Weibchen die Küken groß zieht. Sie sind Nestflüchter, werden aber erst nach sieben bis acht Woche flügge. Wenn in dieser Zeit gemäht wird, ist der Nachwuchs meist verloren.
Untersuchungen mit Tieren, die mit einem Sender ausgestattet waren, haben gezeigt, dass selbst erwachsene Vögel in die Messer geraten. Jeder zweite flüchtete erst, wenn der Kreiselmäher sich bereits auf weniger als fünf Meter genähert hatte – mit der Folge, dass auch jeder fünfte flugfähige Wachtelkönig die Mahd nicht überlebte.
Die Wiesenrallen von Gut Moor und dem benachbarten niedersächsischen Klein Moor haben diese Probleme nicht. Zwar wird rund um die Stiftungswiesen bereits gemäht, aber es bleiben die Ausgleichsflächen als Rückzugsorte.
Ein paar hundert Meter nachdem die Exkursionsteilnehmer das Rufer-Trio erlebt hatten, ist erneut das Crex crex zu hören, dieses Mal als Duett. Und auch auf der zweiten Wiese in Klein Moor ist das charakteristische Geratsche zu vernehmen, allerdings stark gestört durch die geräuschvolle Autobahn 1, die am Rande der Wiese über die Landschaft hinweg führt. Die Meinungen gehen auseinander, ob dort in dieser Nacht zwei oder drei Rallen rufen.
In den Moorwiesen ist die Wachtelkönig-Welt offenbar in Ordnung. Doch obwohl die Art über weite Teile Europas verbreitet ist, gilt sie weltweit als bedroht. Die Bestände schwanken stark, nicht nur, weil der Vogel schwer zu zählen ist. Ende der 1990er-Jahre lebten in Hamburg und Schleswig-Holstein besonders viele Wachtelkönige. Damals gab es aufgrund der politischen Umbrüche in Osteuropa, dem Hauptverbreitungsgebiet von Crex crex, viele brachliegende Felder. Das wusste die Art zu nutzen, vermehrte sich redlich, und „überschüssige“ Vögel stützten hiesige Bestände. Inzwischen haben sich die Populationen in Hamburg und Schleswig-Holstein etwa halbiert.
Aus den Wiesen von Gut Moor steigen inzwischen Nebelschwaden auf und lassen die Landschaft mystisch erscheinen. Davon unbeeindruckt sind die Wachtelkönige weiter am Werk. Landläufig werden sie auch Wiesenschnarcher genannt. Doch im Gegensatz zu den menschlichen Schnarchern sind die Vögel hellwach, wenn sie mitten in der Nacht ihre Schnarchgeräusche in die Wiesen posaunen. Die kleine Exkursionsgruppe freut sich dagegen allmählich auf das heimische Bett, gern auch ohne Schnarchgeräusche.
Wollen auch Sie einmal dem Wachtelkönig
lauschen? Neben den genannten Gebieten sind
die Chancen im Duvenstedter Brook, Stellmoorer Tunneltal, auf dem Höltigbaum und im Vorland Altengamme am größten. Für alle, die sich
„einhören“ wollen oder den Weg in die nächtliche Wiese scheuen, hier einige Tonaufnahmen:
www.abendblatt.de/wachtelkoenig