Viele Studenten schieben Hausarbeiten oder Referate auf – bis es zu spät ist. Wer fast nie pünktlich fertig wird, braucht einen Plan.
Hamburg. Zeitung lesen statt Fachliteratur, auf Facebook surfen statt im Bibliothekskatalog, mit der Freundin telefonieren statt mit dem Bafög-Amt: Es gibt immer etwas, womit man sich von lästigen Pflichten ablenken kann. „Aufschieben ist normal“, sagt Hans-Werner Rückert, Studienberater an der Freien Universität Berlin. „Aber nur bis zu einem bestimmten Punkt“, so der Diplom-Psychologe. Im schlimmsten Fall ist die Aufschieberitis so schlimm, dass Studenten es nicht bis zur Abschlussprüfung schaffen.
In der Regel sind Aufschieber nicht faul – im Gegenteil. „Wer faul ist, würde die Anstrengung vermeiden und nichts anderes tun.“ Der typische Aufschieber hingegen räumt den Keller auf, putzt den Kühlschrank oder geht einkaufen. Aber er setzt sich eben nicht an den Schreibtisch und fängt endlich an, seine Hausarbeit zu Papier zu bringen. „Er macht auch ungeliebte Tätigkeiten, solange er dadurch etwas Belastenderes vermeiden kann“, sagt Rückert.
Die Prokrastination, das krankhafte Aufschieben, ist zu einem echten Problem geworden unter den Studenten in Deutschland: Studien zeigen, dass jeder zweite Student dazu neigt, anstehende Dinge eher morgen statt heute zu erledigen. Etwa 20 Prozent zählten zu den chronischen Aufschiebern, sagt Rolf Schulmeister, Bildungsforscher an der Universität Hamburg. Kollegen aus verschiedenen Uni-Städten und er haben Studenten gebeten, über mehrere Monate am Ende des Tages ihre Arbeitszeit zu protokollieren. Dabei kam heraus: Die gefühlte Arbeitsbelastung ist deutlich höher als die tatsächliche. Die Studenten schätzen ihre Arbeitsbelastung im Schnitt auf 36 Stunden pro Woche – laut Protokoll waren es im Mittel 23 Stunden.
Dabei ist der Pädagogik-Professor auf ein interessantes Phänomen gestoßen: Wer mehr Stunden ins Lernen investiert, ist nicht automatisch besser. Das Gegenteil ist sogar manchmal der Fall, sagt Schulmeister.
Wer zwar regelmäßig am Schreibtisch sitzt, aber dennoch mit seiner Arbeit nicht so recht vorankommt, sollte zunächst positiv sehen, was er schon geschafft hat. „Die Küche ist wahrscheinlich blitzblank und die Wäsche sogar gebügelt“, sagt Rückert. Dann allerdings sollte man nach den Gründen des Aufschiebens suchen: Ist die Angst vor dem nächsten Schritt bedrohlich – der Abschlussarbeit nach der Hausarbeit etwa? Oder ist man am Ende sogar im falschen Studienfach und kann sich mangels Interesse am Stoff nicht motivieren?
Oft seien beim Aufschieben bewusste oder unbewusste Konflikte im Spiel, sagt Rückert. So könne es etwa darum gehen, eine Beschädigung des Selbstwertgefühls abzuwehren. Denn eine mittelmäßige Arbeit ist für die meisten nicht schlimm, wenn sie nur drei Tage daran gearbeitet hat. „Wenn ich aber Wochen investiert habe, ist die schlechte Note ein übler Schlag.“
Um diese Ängste in den Griff zu bekommen, hilft oft ein kleinteiliger Plan: Für den Besuch in der Bibliothek sollte eine genaue Zeit- und Aufgabeneinteilung festgelegt werden. Dazu sollte es klare Zeiten geben, in denen die Arbeit tabu ist. So werden aus der unlösbaren, riesigen Aufgabe mehrere kleine Schritte. Um die Motivation zu erhalten, sei nach getaner Arbeit eine kleine Belohnung wichtig. Das kann zum Beispiel ein Kinobesuch oder ein leckeres Essen sein.
Wer allerdings merkt, dass er auch mit guten Plänen nicht merklich vorankommt, sollte sich Hilfe von außen suchen. Und zwar, bevor ernsthafte Konsequenzen drohen wie eine Exmatrikulation oder eine Depression. Fast alle Hochschulen bieten Aufschiebern über ihre Beratungsstellen Hilfe an.
An der Universität Münster gibt es sogar eine Prokrastinations-Ambulanz. Inzwischen wurden dort schon mehr als 500 Patienten betreut, sagt die Psychotherapeutin Anna Höcker. Ihr Eindruck: „Die Betroffenen tun überwiegend nicht mehr das, was sie eigentlich wollen, und leiden häufig unter Selbstabwertung.“ Sie beobachtet, dass das chronische Aufschieben sogar körperlich ernsthafte Folgen haben kann, zu denen Schlafstörungen, Herz- und Kreislaufprobleme, Angst und Ohnmacht gehören können.
Um es nicht so weit kommen zu lassen, verfolgt Prof. Schulmeister in Hamburg einen ganz eigenen Plan. Er versucht, möglichst viele Blockseminare anzubieten. Dabei wird ein Modul – statt in wöchentlichen Häppchen – konzentriert in vier oder fünf Einheiten angeboten. Dazwischen gibt es Phasen zum Selbststudium. Die Noten der Studenten seien in Blockseminaren meist besser als bei jenen Seminaren, die das ganze Semester über dauern. Wer eine solche Übung besuchen kann, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit also erst gar nicht in die Gefahr des Aufschiebens.