Hamburg. Oft sind Angestellte im Vertrieb von langen Verhandlungen und anstrengenden Kunden gestresst. Der Arbeitsalltag hat wohl seinen Preis.

Neurotizismus ist in der Psychologie ein Persönlichkeitsmerkmal, das durch eine erhöhte emotionale Empfindlichkeit und Neigung zu negativen Gefühlen wie Angst, Traurigkeit und Reizbarkeit gekennzeichnet ist. Menschen mit einem hohen Neurotizismus-Wert neigen dazu, stressanfälliger zu sein und erleben intensivere emotionale Reaktionen auf alltägliche Herausforderungen.

Im Gegensatz dazu haben Personen mit niedrigen Werten im Neurotizismus eine größere emotionale Stabilität, sind meist gelassener und weniger anfällig für Stimmungsschwankungen. Hoher Neurotizismus kann mit psychischen Störungen wie Angststörungen oder Depressionen in Verbindung stehen, wobei die Ausprägung von Mensch zu Mensch variiert.

Das kann im Beruf zu einem ernsthaften Problem werden. Laut einer neuen Studie könnten davon vor allem Menschen betroffen sein, die im Vertrieb arbeiten.

Studie: Neurotizismus wird durch Tätigkeit im Vertrieb verschärft

Dass viele Vertriebler neurotisch werden, liege vor allem an den vielen Unsicherheiten im Beruf, schreiben die Autoren einer in der Fachzeitschrift „Organizational Behavior and Human Decision Processes“ veröffentlichten Untersuchung. Insbesondere Vertriebsangestellte, die Business-to-Business (B2B) Produkte und Dienstleistungen verkaufen, seien gefährdet, ein hohes Maß an Neurotizismus zu entwickeln. Als B2B werden Geschäftsbeziehungen bezeichnet, die sich zwischen mindestens zwei Unternehmen abspielen.

„Für Vertriebsprofis können die dem Job innewohnenden Unsicherheiten – wie lange Verkaufszyklen, komplexe Verhandlungen und die Abhängigkeit von Provisionen – einen Nährboden für neurotische Tendenzen schaffen“, erklärt Selma Kadic-Maglajlic, Professorin für Marketing an der Kopenhagen Business School und Co-Autorin der Studie, auf „The Conversation“. Verkaufspersonal, wie es einem täglich in der Öffentlichkeit begegnet, arbeite dagegen in kurzfristigeren Prozessen.

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Finanzielle Unsicherheit von Vertrieblern erhöht das Stresslevel

„Ein Verbraucherverkäufer könnte Ihnen beispielsweise ein Auto verkaufen – der Vorgang würde höchstens ein paar Stunden dauern, mit minimalen Auswirkungen, wenn der Deal scheitert“, so Kadic-Maglajlic. Ein B2B-Verkäufer sei jedoch dafür verantwortlich, einem großen Unternehmen eine Fahrzeugflotte oder eine Großhandelslieferung von Teilen an einen Automobilhersteller zu verkaufen.

Ein „B2B-Vertriebler“ müsse einen Überblick über große Transaktionen, komplexe Produkte und mehrere Stakeholder (Interessensgruppen) behalten. Verhandlungen mit den Kunden sind oftmals hart und erfordern viel Geduld. Das Stresslevel kann dementsprechend über mehrere Monate hoch – und schädlich sein. Gleichzeitig hängt bei vielen Vertrieblern das Einkommen auch von den Kommissionen ab, die sie für erfolgreiche Deals erhalten.

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„Big Five“: Forscher nutzen psychologisches Modell für Studie

In ihrer Studie bedienten sich die Forscher des psychologischen Modells der „Big Five“. Bei den „Großen Fünf“ geht es um fünf Persönlichkeitseigenschaften, die bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Neben Neurotizismus sind das Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion und Verträglichkeit. Die Studie untersuchte insgesamt 1700 B2B-Vertriebsmitarbeiter und 24.000 anderweitig Beschäftigte auf ihren Neurotizismus.

„Die Forschung zeigt, dass die ständige Unsicherheit in B2B-Vertriebsjobs defensive emotionale Reaktionen auslöst, die bei häufiger Aktivierung den Neurotizismus im Laufe der Zeit verstärken und verstärken können“, fasst Kadic-Maglajlic die Ergebnisse zusammen.

Zu den schädlichen Auswirkungen chronischer Unsicherheit in der Vertriebsarbeit gehöre eine Persönlichkeitsveränderung, die zu psychischen Störungen führen kann. Kadic-Maglajlic empfiehlt dieses Risiko wie auch andere Gefahren am Arbeitsplatz zu behandeln.

Das können Arbeitgeber tun, um ihre Mitarbeiter zu schützen

„So wie die Bauindustrie Maßnahmen ergreift, um Arbeitnehmer vor körperlichen Schäden zu schützen, sollten Unternehmen darüber nachdenken, ihre Mitarbeiter vor psychischen Schäden zu schützen, insbesondere in anspruchsvollen Positionen wie dem B2B-Vertrieb“, sagt Kadic-Maglajlic.

Dagegen helfen könnten betriebliche Gesundheitsmaßnahmen wie eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio, Training für die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz oder die Förderung von Therapiestunden. Auch durch bezahlte Frei-Tage könnten Mitarbeiter eine Auszeit nehmen, wenn sie eine mentale Pause benötigen. „Dies fördert eine gesündere Work-Life-Balance und trägt dazu bei, einer Zunahme von Neurotizismus vorzubeugen.“