Berlin. Viele Menschen leiden unter dauerhaften Ohrgeräuschen. Ein Experte erklärt, wie die Behandlung in einem Tinnitus-Zentrum abläuft.

Tinnitus ist ein sehr häufiges Symptom gestörter Hörverarbeitung. Studien zufolge haben fast alle Menschen Ohrgeräusche erlebt, die nach kurzer Zeit wieder verschwunden sind. Zehn bis 15 Prozent der Menschen hören den Tinnitus länger als drei Monate, etwa zwei Prozent macht er das Leben zur Hölle.

Wie Betroffene Hilfe finden, was eine erfolgreiche Behandlung bedeutet und wie ein Tinnitus-Zentrum arbeitet, erklärt der Leiter des Tinnitus-Zentrums in Jena, Prof. Christian Dobel.

Herr Prof. Dobel, diese Frage dürfte vielen Betroffenen aus dem Herzen sprechen: Wann wird ein Medikament gegen Tinnitus entdeckt?

Christian Dobel: Ein Tinnitus entsteht durch eine Veränderung auf der Hörbahn, die von den Ohren bis zum Gehirn sehr viele Schaltstationen umfasst. Ein Tinnitus ist also nicht nur ein auditorisches Phänomen, sondern umfasst auch das Denken und Handeln der Betroffenen. Und vor diesem Hintergrund ist es sehr naheliegend, dass es nie ein Medikament geben dürfte, das all diese komplexen Prozesse positiv beeinflussen kann. Aber geeignete Bewältigungsstrategien können das Leben der Betroffenen wieder lebenswert machen – ganz ohne Medikamente.

Wann sollten Menschen mit einem Tinnitus unbedingt zum Arzt oder zur Ärztin?

Dobel: Zentral für das Verständnis eines Tinnitus ist, dass es einen kompensierten und einen dekompensierten Tinnitus gibt. Ich habe auch dauernd ein Ohrgeräusch, leide aber nicht darunter und meine Lebensqualität sinkt nicht durch den Tinnitus. Das heißt, der Tinnitus ist kompensiert. Ein dekompensierter Tinnitus bedeutet, dass der Alltag von Patienten beeinträchtigt ist. Sie leiden.

Man sollte unbedingt zu einem HNO-Arzt oder einer HNO-Ärztin, wenn es vor den Ohrgeräuschen ein Ereignis gab, eine Infektion zum Beispiel, einen Hörverlust oder ein Knalltrauma. Oder wenn man das Gefühl hat, man hört schlechter. Bis zu einer Dauer von drei Monaten ist ein Tinnitus akut, danach wird er als chronisch bezeichnet. In der Regel liegt dem Tinnitus keine gefährliche Krankheit zugrunde, eine Abklärung ist aber empfehlenswert.

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Tinnitus: „Die Frage ist: An welcher Schraube muss drehen“

Sie leiten ein Tinnitus-Zentrum in Jena. Wie gehen Sie bei der Behandlung vor?

Dobel: Nach Ausschluss behandlungsbedürftiger körperlicher Ursachen wird der Hörstatus eroben. Anschließend gibt es bei unserer Behandlung mehrere Bausteine. Ein sehr wichtiger kann die Versorgung mit einem Hörgerät sein, ein weiterer die Zusammenarbeit mit dem Institut für Physikalische und Rehabilitative Medizin.

Die Mitarbeitenden schauen sich den Körperbau unserer Patienten an, Körperhaltung, Fehlstellungen, sie suchen nach chronischen Schmerzen, schauen sich Gelenke und die Muskulatur an. Schließlich spielt auch noch die Aufklärung über psychische Erkrankungen und Psychotherapie eine wichtige Rolle. Jeder Patient ist anders. Die Frage für uns ist deshalb: Was ist das Grundproblem? An welcher Schraube muss ich drehen für Veränderung.

Christian Dobel
Christian Dobel ist seit 2015 Professor für Experimentelle Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde am Universitätsklinikum Jena. Dort leitet er auch das Tinnitus-Zentrum. © Universitätsmedizin Jena | Universitätsmedizin Jena

Was kann man denn verändern?

Dobel: Eine unserer Grundideen lautet, dass man Strategien erlernen kann, um den Tinnitus besser bewältigen zu können. Wenn ich zum Beispiel die Möglichkeit habe, chronische Schmerzen zu verringern, kann ich auch besser mit meinem Tinnitus umgehen. Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Wissensvermittlung zu Aspekten der Hörakustik, der kognitiven Verhaltenstherapie mit Themen wie Aufmerksamkeitslenkung, Umgang mit Stress und negativen Gedanken oder Schlafhygiene. Lösungen können vielschichtig sein. Mehr Bewegung etwa, eine Änderung der Berufssituation oder ein Hörgerät.

Klingt nicht danach, als würden Sie Hörprobleme behandeln?

Dobel: Doch, zum Beispiel durch Hörgeräte, aber Tinnitus ist eine komplexe, hoch komorbide Störung. Das heißt, dass Patienten mit schwerem Tinnitus meist noch andere Störungen haben: Depressionen zum Beispiel, Angst- und Schlafstörungen, chronische Schmerzen. Wir suchen danach, wie wir die Situation für unsere Patienten verbessern können und bringen ihnen bei, was sie selbst tun können. Dazu arbeiten bei uns unterschiedliche Disziplinen zusammen. Wir erteilen dabei keine Ratschläge, sondern unterstützen die Pateinten dabei selbst aktiv zu werden und als Experten für Ihre Lebenssituation zu agieren.

Klare Empfehlung für Teilnahme an Selbsthilfegruppen

Sie raten Tinnitus-Patienten dazu, sich auszutauschen. Warum ist das so wichtig?

Dobel: Ich habe etwas Zeit gebraucht, um das zu verstehen. Patienten fühlen sich untereinander näher als Patient und Therapeut. Sie können sich leichter öffnen, profitieren von der Erfahrung anderer und nicht mit dem Problem allein zu sein. Deshalb finden Sie auch in der Leitlinie zur Behandlung von Tinnitus die Empfehlung für Selbsthilfegruppen.

Die erste Behandlung in ihrem Zentrum dauert eine Woche. Was passiert dann?

Dobel: Am letzten Tag der ersten Woche kommt es zum sogenannten Butter-bei-die-Fische-Termin. Wir fragen: Was nehmen Sie mit, was setzen Sie um? Kleine Schritte sind besser als keine. Zweieinhalb Wochen später treffen wir uns wieder. Dann sehen wir, was passiert ist und ob es Fortschritte gibt. Manchmal brauchen die Patienten auch weitere Behandlungen, dann steuern wir nach. Sechs Monate nach dem zweiten Termin gibt es einen letzten Nachuntersuchungstermin.

Ihre Arbeit ist wissenschaftlich untersucht worden. Wie sind die Erfolge einer solchen Behandlung?

Dobel: Wir haben gerade die Daten einer Fünf-Jahres-Erhebung ausgewertet. Wir sehen sehr deutliche positive Ergebnisse , die robust über fünf Jahre anhalten. Fünf Jahre nach der Behandlung sind 75 Prozent kompensiert.

„Tinnitus ist noch da, er spielt aber keine Rolle mehr“

Was genau ist ein positives Ergebnis?

Dobel: Das Leiden durch den Tinnitus wird weniger. Oder wie es ein Patient einmal perfekt ausgedrückt hat: Der Tinnitus ist noch da, aber er spielt keine Rolle mehr in meinem Leben.

Sie haben im Laufe ihrer Karriere mit Sicherheit viele verzweifelte Menschen gesprochen. Was sagen Sie Menschen, die drohen, am Tinnitus kaputtzugehen?

Dobel: Das hören wir vor der Behandlung häufig. Die wichtigste Botschaft ist: Es gibt viele Behandlungsoptionen gegen das Leiden. Das bedeutet von Seiten der Patienten vielleicht, Mühe und Arbeit einbringen zu müssen. Aber es lohnt sich.