Molenbeek. Thomas Frankenfeld stellt unsere Nachbarländer vor, analysiert ihr Verhältnis zu Deutschland und wie sie mit Flüchtlingen umgehen.
Immer wieder Molenbeek. Die Gemeinde westlich der belgischen Hauptstadt Brüssel ist zum Synonym für gescheiterte Integration muslimischer Einwanderer in Europa und für hausgemachten Terrorismus geworden. Zum ersten Mal 2001, als bekannt wurde, dass Abdessatar Dahmane – der Mörder des afghanischen Kriegshelden Ahmed Schah Massoud – ein Stammgast des berüchtigten Islamischen Zentrums in Molenbeeks Rue de Manchester Nummer 18 war. Hätte der Taliban-Anhänger Dahmane den „Löwen von Pandschir“ nicht ermordet - die jüngste Geschichte Afghanistans wäre vielleicht ganz anders verlaufen. In Molenbeek radikalisierte sich auch Hassan el-Haski, mutmaßlicher Drahtzieher der Attentate von Casablanca 2003 mit 41 Toten und Madrid 2004 mit 200 Todesopfern.
Aus Molenbeek-Saint-Jean stammten die Waffen, die im Januar 2015 beim Anschlag auf „Charlie Hebdo“ in Paris verwendet wurden. In Molenbeek wohnte Mehdi Nemouche, der ein Blutbad im Jüdischen Museum in Brüssel anrichtete. Und auch nach den Attentaten vom 13. November 2015 in Paris führte eine Spur nach Molenbeek.
Die Brüsseler Gemeinde mit ihren knapp 100.000 Einwohnern, eine von 19 der Region Brüssel-Hauptstadt, ist seit dem 19. Jahrhundert Ziel von meist muslimischen Einwandern. Die Arbeitslosenquote liegt über 30 Prozent, bei Jugendlichen betrug sie 2015 sogar knapp 42 Prozent.
Vor zehn Jahren bezog eine junge Belgierin marokkanischer Abstammung für zwei Monate eine Wohnung in Molenbeek und erforschte undercover das soziale Umfeld. Hind Fraihi fand heraus, dass junge Muslime aus Molenbeek gezielt angeworben und für den bewaffneten Kampf ausgebildet wurden. In ihrem Buch „Undercover in Little Morocco“, das in Zeitungen abgedruckt wurde, beschrieb sie bereits vor zehn Jahren minutiös all jene gefährlichen Entwicklungen, die Molenbeek schließlich zu einem Hort des militanten Extremismus machten.
Sie fand zum Beispiel heraus, dass Gewaltaufrufe zum Dschihad aus Saudi-Arabien stammten. „Die jungen Leute hier haben weder einen Job noch eine Zukunft“, schrieb Fraihi, „es ist daher sehr leicht, sie zu indoktrinieren, wenn man ihnen eine ‚große Story’ gibt, einen Traum, ein Ideal.“ In den westlichen Gesellschaften gebe es sehr viel Individualismus, und das sei hart für manche Leute. „Sie suchen die Verbindung mit anderen.“ Der militante Islam liefert genau diese Verbindung. Politik und Behörden nahmen die Warnung Fraihis zur Kenntnis – und taten wenig.
Eine dramatische soziale Entwicklung im politischen Zentrum Europas
Dabei ist Molenbeek keiner jener trostlosen „Banlieues“, der kalten Trabantenstädte am Rand französischer Großstädte. Es ist ein lebendiger Stadtteil von Brüssel. Der libanesisch-belgische Schriftsteller Dyab Abu Jajah machte im Berliner „Tagesspiegel“ einen flämischen Rassismus gegenüber Einwanderern für die dramatische Entwicklung verantwortlich. „Die Polizisten nennen dich konsequent ‚Makak‘ (Kanake, eigentlich Affe) oder ‚Hond‘ (Hund). Du bekommst keinen Job.“
Diese soziale Entwicklung findet sozusagen mitten im Herzen Europas statt. Brüssel ist nicht nur die Haupt- und Residenzstadt des Königreiches Belgien, einer konstitutionellen Monarchie unter ihrem jungen König Philippe. Es ist zugleich auch Hauptsitz der Europäischen Union sowie Sitz der Nato, ferner von Eurocontrol und anderen internationalen Organisationen.
Der Politologe Jean-Benoit Pilet von der Freien Universität Brüssel sagte den Medien zu Belgiens Terror-Problem, die Polizei sei nicht im Bestzustand, da jahrelang zu wenig investiert worden sei. Brüssel hat im Kern 170.000 Einwohner, die belgische Region Brüssel-Hauptstadt jedoch zählt mehr als 1,1 Millionen Menschen. Brüssel ist zugleich eine von drei Regionen Belgiens; die beiden anderen sind Flandern und Wallonien. Fast deckungsgleich damit gibt es eine weitere Dreiteilung: In die französischsprachige, niederländischsprachige und – einige kleine Gebiete ganz im Osten betreffend – die deutschsprachige Gemeinschaft. Das Spannungsverhältnis zwischen dem niederländischsprachigen Norden und dem französischsprachigen Süden prägt Belgien entscheidend.
Belgien entstand 1830
Der Staat Belgien entstand 1830 nach Aufständen der südlichen, überwiegend katholischen Provinzen des Königreichs der Vereinigten Niederlande gegen die Dominanz des protestantischen Nordens. Aus diesen Südprovinzen und dem Westteil des Großherzogtums Luxemburg wurde schließlich das heutige Belgien als Monarchie.
Auf König Leopold I. folgte sein Sohn Leopold II. Dessen Regierungszeit (1865 bis 1909) markiert den wohl dunkelsten Punkt in der Geschichte Belgiens. Leopold II. gründete in Zentralafrika den Kongo-Freistaat – als persönliches Besitztum. Er ließ seine Truppen mit äußerster Brutalität vorgehen, um Profit zu machen. Wer etwa nicht genug Kautschuk lieferte, dem wurden die Hände abgehackt. Bald gab es Tausende Verstümmelte. Niemand weiß genau, wie viele Menschen Leopolds „Kongo-Gräueln“ zum Opfer fielen. Der US-Experte Adam Hochschild schätzt die Zahl der Opfer dieses „belgischen Holocaust“ auf zehn Millionen.
Im neuen Staat Belgien wurde zunächst die französische Sprache als alleinige Amtssprache eingeführt; Niederländisch galt als „Bauernsprache“. Zugleich wurde der Katholizismus als Staatsreligion etabliert. Allmählich entstand jedoch eine flämische Bewegung, die sich aufzulehnen begann.
Nun war die Wallonie lange die wirtschaftlich übermächtige Region. Hier waren die Montan- und stahlverarbeitende Industrie beheimatet. Doch während in der Schwerindustrie ein Niedergang mit Massenentlassungen einsetzte, entwickelte sich Flandern zum florierenden Handels- und Dienstleistungszentrum. Das wachsende ökonomische Ungleichgewicht zugunsten des nun wohlhabenderen Flandern führte zu umfangreichen Transferzahlungen - und prompt zu Separationsbewegungen der murrenden Flamen.
Eine fundamentale Staatsreform kam in Gang und wurde zwischen 1970 und 2003 in bislang fünf Etappen mit dem Ziel verabschiedet, den Staat Belgien als Ganzes zu bewahren. Jedoch mit der faktischen Auswirkung, dass die Regionen in ihrer Selbstverwaltung gestärkt, der Zentralstaat geschwächt wurden und viele Belgier heute das Gefühl haben, in zwei völlig unterschiedlichen Staaten zu leben. Flandern, die Wallonie und die Region Brüssel stellen jeweils einen eigenen Ministerpräsidenten. Ortsschilder außerhalb von Brüssel sind meist einsprachig gehalten; ebenso Bahnhofsdurchsagen.
Vom Regionenkonflikt zu einer Staatskrise
Die Parteien wenden sich meist nur an ihre eigene Sprachbevölkerung. Im Jahre 2014 gab es in Flandern eine Arbeitslosenquote von 5,1 Prozent, in Wallonien dagegen von fast 12 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag in Flandern bei 36.000 Euro; in Wallonien bei gut 26.000. Bei einer Umfrage 2007 sprachen sich nur noch gut 49 Prozent der Flamen für die Erhaltung des Staates Belgien aus. 2010/11 kam es im Zusammenhang mit dem Regionenkonflikt zu einer Staatskrise; es wurden bereits Modelle für eine mögliche Teilung Belgiens ventiliert. Trotz massiver Vorurteile auf beiden Seiten – hier der „rechtsradikale und separatistische“ Flame, dort der „arbeitsscheue und korrupte“ Wallone – hat sich in Belgien eine Kultur des Kompromisses bewährt.
Eine Sonderrolle spielt Brüssel, wo das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 62.000 Euro beträgt. Dort haben sich Verbände, Firmenvertretungen und Lobbyagenturen rund um den EU-Hauptsitz angesiedelt. Diese „Eurobubble“ (Euro-Blase) ist ein kosmopolitischer Raum für sich, in der der flämisch-wallonische Konflikt kaum eine Rolle spielt. Die dominierende Sprache in Brüssel ist allerdings Französisch.
Das politische System in Belgien, einem Land, das der Welt die Pommes Frites, Lucky Luke, Tim und Struppi und die Schlümpfe bescherte, ist einzigartig in Europa. Die Entscheidungsebene ist gleichwertig aufgeteilt auf den Föderalstaat, die drei (Kultur-) Gemeinschaften und die Regionen. War Belgien bis 1970 ein zentralistischer Staat, so wurde er seitdem schrittweise in einen Bundesstaat umgewandelt.
Das Verhältnis zwischen Belgiern und Deutschen gilt als entspannt; allerdings gibt es eine schwere historische Hypothek. Unvergessen ist das brutale Vorgehen der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg. Das deutsche Reich hatte die Neutralität Belgiens völkerrechtswidrig ignoriert; deutsche Truppen verübten Massaker und brannten ganze Städte nieder. Wie Löwen, dessen Bibliothek sie mit den Hunderttausenden Büchern und unersetzlichen Handschriften, die in 500 Jahren gesammelt worden waren, in Asche verwandelten. Auch im Zweiten Weltkrieg besetzten deutsche Truppen das Land.
Seit den Kölner Übergriffen gibt es für Flüchtlinge Kurse im Umgang mit Frauen
Mit dem jüngsten Zustrom von Flüchtlingen gingen die multikulturellen Belgier – allein in der Hafenstadt Antwerpen mit ihren 510.000 Einwohnern leben Menschen aus 160 Nationen – zunächst recht gelassen um. Nach den Übergriffen in Köln reagierte die Regierung rasch und setzte Kurse für männliche Flüchtlinge im Umgang mit Frauen an. Doch dann kam es zu wilden Zeltlagern im Brüsseler Parc Maximilien, die sich in eine Kloake verwandelten – nur wenige Metrostationen vom glitzernden Machtzentrum der Europäischen Union entfernt. Die Behörden hatten offenbar bewusst nur einen einzigen Schalter im ganzen Land für die Registrierung der Menschen eingerichtet, die für ein Asylersuchen unerlässlich ist. Ende Februar schloss Belgien seine Grenze zu Frankreich, denn man befürchtete, dass die Flüchtlinge im Zuge der Auflösung des riesigen Zeltlagers in Calais ins belgische Zeebrügge ausweichen könnten. Für dieses Jahr wird mit 40.000 Flüchtlingen gerechnet, und der für Asyl und Zuwanderung zuständige Staatssekretär Theo Francken ist ein flämischer Nationalist.
Belgiens Regierung unter Premierminister Charles Michel, die seit 2014 amtiert, ist eine Koalition aus flämischen Nationalisten, Christdemokraten sowie flämischen und französischsprachigen Liberalen. Auch Belgien hat seine rechtsextreme Partei: Sie heißt „Vlaams Belang“ (Flämische Interessen). Ihre Positionen sind separatistisch, EU-feindlich, antimuslimisch bis offen rassistisch. Bei den Parlamentswahlen 2009 hatte Vlaams Belang 15,3 Prozent der Stimmen und 21 Sitze im Parlament erreicht. Die Partei gilt im Parlament jedoch als nicht koalitionsfähig. Bei den Wahlen 2014 war ihr Anteil bereits wieder auf 5,9 Prozent und sechs Sitze geschrumpft.