Thomas Frankenfeld stellt unsere Nachbarländer vor, analysiert ihr Verhältnis zu Deutschland und wie sie mit Flüchtlingen umgehen.
Am 29. August 1787 kam im Theater am Opernhof am Hamburger Gänsemarkt ein Drama des jungen Dichters Friedrich Schiller zur Welturaufführung. Das „dramatische Gedicht“ in fünf Akten (Don Carlos) handelt vom Freiheitskampf der niederländischen Provinzen gegen die Schreckensherrschaft der spanischen Krone. Der darin enthaltene Aufruf des Marquis von Posa an den religiösen Fanatiker und Machtmenschen König Philipp II. – „geben Sie Gedankenfreiheit, Sire“ – ist zur unsterblichen Mahnung an alle Despoten der Welt geworden.
Philipps verhängnisvolle Entscheidung, den beinharten Feldherrn Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von Alba, als Statthalter in die Spanischen Niederlande zu schicken, um dort separatistische Unruhen niederzuwerfen, führte letztlich zum Gegenteil: der Geburtsstunde der heutigen Niederlande. Albas auch nach damaligen Maßstäben brutalem Vorgehen gegen die Niederländer – die sich gegen die grausame spanische Inquisition und Albas Herrschaft des Terrors mithilfe seines berüchtigten „Blutrates“ wehrten – fielen in Brüssel 6000 Regimekritiker und in Mechelen und Antwerpen weitere 18.000 zum Opfer. Nicht wenige wurden lebendig verbrannt. Schillers Freund Johann Wolfgang von Goethe verewigte den Tod der rebellischen Grafen Egmont und van Hoorne auf dem Schafott literarisch.
Der Freiheitswillen der Niederländer
Bereits wenige Monate nach Albas Amtsantritt 1567 war der Achtzigjährige Krieg zwischen sieben niederländischen Provinzen und der spanischen Krone ausgebrochen. Erst im Westfälischen Frieden 1648, der den entsetzlichen Dreißigjährigen Krieg in Europa beendete, gelang eine Lösung; Spanien musste die Unabhängigkeit der nördlichen Niederlande anerkennen. Der südliche Teil blieb noch bei Spanien. Aus ihm ging im 19. Jahrhundert der Staat Belgien hervor. Der unbändige Freiheitswille der Niederländer, ihr ausgeprägter Widerwillen gegen autoritäre Fremdherrschaft scheint geradezu genetisch angelegt und spielte auch in späteren Jahrhunderten immer wieder eine große Rolle.
Niederländische Händler und Kauffahrer waren immer geschickt gewesen. Nun, im Rahmen der unabhängigen Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, sorgten sie für einen beispiellosen wirtschaftlichen Erfolg des jungen Staates, der schon im 17. Jahrhundert zu den größten See- und Handelsmächten der Erde zählte.
Das „Goldene Zeitalter“: Rembrandt und Vermeer
Die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) und die Niederländische Westindien-Kompanie (WIC) waren die ersten Aktiengesellschaften der Welt. Ein Kolonialreich entstand, zu dem das heutige Indonesien zählte. Auch in der Neuen Welt setzten sich die Niederländer fest: Sie kauften den Indianern die Insel Manna-hatta für 60 Gulden ab und errichteten die Siedlung Nieuw Amsterdam, die vor allem unter Peter Stuyvesant Verwaltungssitz der Kolonie Nieuw Nederland war. Aus Manna-hatta wurde unter den Briten Manhattan, aus Nieuw Amsterdam New York und der Name Peter Stuyvesant auf andere Weise weltberühmt.
Dieses „Goldene Zeitalter“ der Republik war aber auch für die Kultur überaus fruchtbar. Künstler wie Rembrandt van Rijn, Jan Vermeer, Frans Hals und viele andere schufen in dieser Periode rund 70.000 Gemälde, einzigartig in der Kunstgeschichte. Stars späterer Jahrhunderte waren dann zum Beispiel Vincent van Gogh und Piet Mondrian. Der französische Kaiser Napoleon, der in Europa politisch keinen Stein auf dem anderen lassen konnte, machte die Niederlande 1806 zum Königreich Holland und seinen Bruder Louis-Napoleon zum König, aber schlug das Reich 1810 Frankreich zu. Drei Jahre später wurden die Niederlande unabhängig.
Das belastete Verhältnis zwischen den Niederlanden und Deutschland
Während es den Niederlanden im Ersten Weltkrieg noch gelang, neutral zu bleiben, wurden sie 1940 Opfer der deutschen Wehrmacht, weil Hitler die enorm befestigte französische Maginot-Linie von Norden her umgehen wollte und dazu die Beneluxstaaten besetzte. Die SS rückte nach und begann ihre Terrorherrschaft. Von einst 200.000 Juden, die in den Niederlanden gelebt hatten, waren 1945 noch höchstens 30.000 übrig.
Zum Symbol der Unmenschlichkeit des NS-Völkermordes auch in den Niederlanden wurde das Schicksal der gebürtigen deutschen Jüdin Anne Frank, deren Familie in die Niederlande geflohen war, um dem Holocaust zu entgehen. Mehr als zwei Jahre lebte das Mädchen in einem Versteck in einem Amsterdamer Hinterhaus, bis es verraten wurde. Anne kam nach Auschwitz und starb im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen. Ihr weltberühmtes Tagebuch, das sie im Versteck geführt hatte, zählt zu den bewegendsten Zeugnissen aus der Zeit der NS-Herrschaft.
Es ist diese grausame Besatzungszeit, die das Verhältnis zwischen Niederländern und Deutschen bis heute belastet. Und ausgerechnet ein Deutscher, der Mitglied der Hitlerjugend und der Wehrmacht war, sorgte für die erste Heilung dieser tiefen Wunden: Claus von Amsberg. Aus einem mecklenburgischen Adelsgeschlecht stammend, lernte er am Silvesterabend 1962 die niederländische Kronprinzessin und spätere Königin Beatrix kennen. Sie heirateten im Dezember 1966.
Der an Depressionen und allerlei schweren Krankheiten leidende „traurige Prinz“ wurde aufgrund seines freundlichen Wesens und seines sozialen Engagements schließlich zum beliebtesten Mitglied des niederländischen Königshauses. Claus von Amsberg starb im Oktober 2002.
Die Niederlande sind eine parlamentarische Monarchie, Staatsoberhaupt ist seit der Abdankung seiner Mutter Beatrix 2013 König Willem-Alexander. Er ernennt den Regierungschef und die Minister, allerdings nach Konsultationen der Fraktionen im Parlament. Dieses Parlament, die Generalstaaten, besteht wie in Deutschland aus zwei Kammern. Seit November 2012 ist das zweite Kabinett der Regierung unter Ministerpräsident Mark Rutte im Amt. Es ist eine Koalition aus der rechtsliberalen Volkspartei für die Freiheit (VVD) und der sozialdemokratischen Arbeitspartei (PvdA).
Rechtspopulisten treiben Regierung vor sich her
In der leidigen Flüchtlingsfrage wird die Regierung vor allem vom enormen Erstarken der rechtspopulistischen Einmann-Partei PVV des Geert Wilders zu immer strengeren Asylregeln getrieben. Wilders Freiheitspartei PVV würde nach Umfragen bei einer Wahl derzeit stärkste Partei. Rutte verfolgt seit Jahren eine restriktive Einwanderungspolitik. Wilders, 2015 ein drittes Mal zum „Politiker des Jahres“ gewählt, fordert, Muslime, die in den Niederlanden leben wollten, müssten „die Hälfte der Koranseiten herausreißen“, die für eine „unmenschliche Lehre“ stünden.
Der Politiker warnte vor einem „Asyl-Tsunami“, vor einem „Sex-Dschihad“ durch „muslimische Testosteron-Bomben“ und will am liebsten alle männlichen Flüchtlinge wegsperren. Der Vorsitzende der Partei Christenunion, Gert-Jan Segers, warf Wilders vor, er sei „an Monstrosität nicht zu übertreffen“. Angeblich wechselt Wilders jede Nacht seinen Aufenthaltsort – aus Angst vor Ermordung.
Aus der Luft gegriffen wäre das nicht; Anfang November 2004 war in Amsterdam der islamkritische Regisseur Theo van Gogh von dem radikalisierten Muslim Mohammed Bouyeri buchstäblich auf der Straße geschlachtet worden. Van Gogh hatte sich den Hass der Muslime durch antiislamische Filme, aber auch durch geschmacklose Angriffe zugezogen. 50.000 Flüchtlinge haben die Niederlande 2015 aufgenommen. Nun wurden die Grenzkontrollen zu Deutschland verschärft. Rechtlich gibt es praktisch keine Duldungsmöglichkeit, wenn ein Asylersuchen abgelehnt wird, was meist der Fall ist. Dann müssen die Menschen die Niederlande binnen weniger Wochen verlassen.
Reizbarkeit kleiner Nation mit großer Vergangenheit
Militärisch arbeiten die Niederlande mit ihren 48.000 aktiven Soldaten eng mit Deutschland zusammen. Einige Marinekräfte beider Staaten werden sogar miteinander verschränkt. So wird das Seebataillon der Bundesmarine in Eckernförde in die niederländische Marine integriert. Die Bundesmarine nutzt dafür den hochmodernen Mehrzweckversorger „Karel Doorman“.
Das Verhältnis der Niederländer zu den „Moffen“ – das beliebte Schimpfwort bedeutet so viel wie „Muffköpfe“ – ist nach wie vor nicht einfach, hat sich in den letzten 20 Jahren aber erheblich zum Positiven geändert. Heute gelten die Deutschen eher als weltoffen, gutmütig, demokratisch. In einer Umfrage 1993 waren Moffen noch als „kriegslüstern, arrogant“ und mit dem Drang zur Weltherrschaft charakterisiert worden. Das hat natürlich viel mit den bitteren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg zu tun. Nach Ansicht von Jacco Pekelder, Professor an der Universität Utrecht und Autor des Buches „Die neuen Nachbarn“, aber auch mit einem allgemeinen Gefühl, von den großen europäischen Staaten nicht angemessen behandelt zu werden. Pekelder spricht von einem übersteigerten Selbstbild als große Seefahrernation und „der Reizbarkeit einer kleinen Nation mit großer Vergangenheit“.
Doch inzwischen würden die Niederländer anerkennen, dass es in der NS-Zeit nicht nur Widerstand, sondern auch Kollaboration gegeben habe. Zehntausende Niederländer hatten in der Waffen-SS und der Wehrmacht aufseiten der Deutschen gekämpft. Die Wahrnehmung dieser „grauen Vergangenheit“ habe eine Wende bewirkt. Auch das skandalöse Verhalten niederländischer Uno-Soldaten, die 1995 im Bosnien-Konflikt dem Massaker von Srebrenica an Muslimen durch bosnische Serben tatenlos zusahen, habe Vorbehalte gegenüber anderen Nationen gedämpft, sagte Pekelder gegenüber RP Online.
Fußballspiele Deutschland – Niederlande sind immer emotional aufgeladen
Die Niederländer stellten sogar fest, dass sie in vielen Eigenschaften den Deutschen ähnlich seien. Gemeinsamkeiten können allerdings auch weitere Reibungsflächen schaffen. Das ist zum Beispiel beim Fußball so, der für die Niederländer ebenso Volkssport ist wie für die Deutschen.
Die Nationalmannschaft „Oranje Elftal“ war immerhin dreimal Vizeweltmeister (1974, 1978 und 2010) und einmal Europameister (1988). Doch es wurmt die Niederländer, dass der große Nachbar und vierfache Weltmeister so viel erfolgreicher ist. Fußballspiele Deutschland gegen die Niederlande sind immer eine emotional aufgeladene Sache.
Die Deutschen machen es den Niederländern dabei auch nicht leicht. Witze über deren oft unglückliches Ausscheiden gehören zum Fan-Repertoire. Wie jener Klassiker: „Was ist der Unterschied zwischen deutschem Bier und einem niederländischen Elfmeter? Deutsches Bier geht immer rein.“