Frankenfeld

Eigentlich fand die berühmte Seeschlacht vor Trafalgar ja erst am 21. Oktober 1805 statt, doch der alles überstrahlende Heldenstatus des britischen Admirals Horatio Nelson gebietet es, seinen Sieg über Napoleons Flotte schon jetzt im Juni zu feiern. Lord Nelson - ein Arm, ein Auge, zwei Frauen - ist d i e Ikone der britischen Militärgeschichte. Und ohne Zweifel ein Held. Nelson genoß derart große Verehrung, daß man seinen Seeleuten den Brandy, in den man den bei Trafalgar gefallenen Admiral eingelegt und nach London gebracht hatte, später zum Genuß überließ. Für dieses Besäufnis muß man wirklich schon ein Hardcore-Fan gewesen sein.

In Deutschland ist das Wort Held aus bekannten historischen Gründen weniger militärisch besetzt. Dennoch lesen wir es ständig. Da sind zum Beispiel die "Helden von Bern", die sich 1954 dieses Etikett verdienten, weil sie geschickter gegen einen Fußball traten als sonst irgendwer.

Doch was ist ein Held? Offenbar jemand, dessen Kräfte weit über die eines normalen Menschen hinausgehen, so daß es ihn zu einer guten Tat befähigt. Aber: "Zeige mir einen Helden, und ich schreibe dir eine Tragödie", warnte F. Scott Fitzgerald, amerikanischer Schriftsteller und Leutnant im Ersten Weltkrieg.

Also zeige ich einen tragischen Helden der nichtmilitärischen Art. Er war äußerlich kein Heroe der Kategorie Siegfried oder Herkules. Sondern ein kleiner, unscheinbarer Mann, hieß Henryk Goldsmit, wurde in Warschau geboren und nannte sich nach dem Helden eines damals beliebten Romanes Janusz Korczak.

Korczak war Arzt, Schriftsteller, Offizier, Pädagoge, Herausgeber und vieles mehr. Obwohl der Elite seines Landes zugehörig, kümmerte er sich ein Leben lang um die Ärmsten unter den Kleinsten: sozial benachteiligte Waisenkinder. Er propagierte in einer Zeit, die Kinder oft als rechtlose Dressurobjekte betrachtete, völlig neue Erziehungsrichtlinien, stellte die Rechte der Kleinen in den Vordergrund. Und leitete zwei nach seinen Regeln aufgebaute Waisenhäuser für jüdische Kinder.

1919 beginnt er seine Vorlesung im Institut für Sonderpädagogik mit einer ergreifenden, für ihn typischen Demonstration. Er stellt einen kleinen, ängstlichen Jungen vor einen Röntgenschirm. Dessen Herz klopft heftig. Den angehenden Erziehern sagt Korczak: "Seht genau hin, haltet euch das stets vor Augen. Immer, wenn ihr erschöpft und erzürnt seid, wenn die Kinder unausstehlich sind, euch aus der Ruhe bringen, wenn ihr aufgebracht seid und brüllt, wenn ihr im Zorn strafen wollt - haltet euch vor Augen, daß dann das Herz eines Kindes so aussieht." So voller Furcht, und so verletzlich.

Es ist Korczak nicht erlaubt, sein Lebenswerk zu Ende zu führen. Im Herbst 1940 werden seine Waisenhäuser von den Nazis in das Warschauer Ghetto verlegt, in unerträgliche Verhältnisse. Der Pädagoge geht mit seinen Kindern, lehrt, schreibt und führt Tagebuch. Seine Eintragungen reißen am 4. August 1942 ab.

Am 5. August, einem ungewöhnlich heißen Tag, werden seine noch lebenden 200 Kinder in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Janusz Korczak, der Offizier, der angesehene Arzt, erhält das Angebot, sich in Sicherheit zu bringen. Obwohl er genau weiß, daß ihn ein qualvoller Tod erwartet, lehnt er dies entrüstet als Verrat an seinen Schützlingen ab. Und beschließt, bis zum letzten Moment bei seinen geliebten Kindern zu bleiben. Weder er noch eines der Kleinen sollten Treblinka überleben.

So kommt es zu der Deportationsszene, die der Augenzeuge Nahum Remba später beschreibt: "Hier begann ein Marsch, wie es ihn noch nicht gegeben hatte. Alle Kinder gingen in Viererreihen, an der Spitze ging Korczak. Er hatte den Blick zum Himmel gewandt und hielt zwei Kinder an der Hand." Der Anblick ist so bewegend, daß der brutale, mit Peitschen bewaffnete Ordnungsdienst spontan vor Korczak salutiert. Die Deutschen fragen beeindruckt: "Wer ist dieser Mann?"

Ja, wer war Janusz Korczak? Ein Held eben. Wie Lord Nelson. Aber ist es nicht eigenartig, daß seine heroische Tat offenbar weniger Emotionen und Verehrung auslöst als die des Admirals?