Dresden/Berlin. Das Entsetzen ist groß: Ein SPD-Politiker wird krankenhausreif geschlagen. Die Tat reiht sich ein in eine Folge von Angriffen auf Parteimitglieder vor den Kommunal- und Europawahlen - was dagegen tun?
Ein brutaler Angriff auf den Dresdner SPD-Europapolitiker Matthias Ecke hat deutschlandweit für Entsetzen gesorgt - und eine Debatte über die Eskalation von Gewalt im Wahlkampf ausgelöst. In Dresden und Berlin demonstrierten mehrere tausend Menschen für Demokratie und gegen Gewalt.
Nach dem Angriff auf den Dresdner SPD-Europapolitiker Matthias Ecke hat sich ein 17-Jähriger der Polizei gestellt. Er habe in der Nacht die Polizei aufgesucht und angegeben, der Täter zu sein, teilte das Landeskriminalamt (LKA) mit. Die Hintergründe der von vier jungen Männern am Freitagabend verübten Attacken auf Ecke und zuvor bereits auf einen Wahlkampfhelfer der Grünen waren am Wochenende noch unklar - die Ermittlungen dauerten an. Die Polizei teilte auf der Plattform X (ehemals Twitter) mit, der Tatverdächtige habe sich noch nicht zum Tatmotiv geäußert.
Demonstrationen in Berlin und Dresden
Politiker aller Parteien zeigten sich entsetzt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte an alle, die politische Auseinandersetzung friedlich und mit Respekt zu führen. Zwei Bündnisse riefen für Sonntagnachmittag zu Demonstrationen in Berlin und Dresden auf - das Motto: „Gewalt hat keinen Platz in unserer Demokratie!“
In der sächsischen Landeshauptstadt kamen nach Angaben von Polizei und Veranstaltern rund 3000 Menschen zusammen, darunter etwa Bundestagsvizepräsidentin Katrin-Göring-Eckardt (Grüne) und die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken. In Berlin versammelten sich nach Angaben der Polizei rund 1000 Demonstranten am Brandenburger Tor, nach späteren Angaben der Organisatoren waren es schließlich rund 3000 Menschen. Darunter waren die Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour, SPD-Chef Lars Klingbeil sowie die Ministerpräsidenten von Sachsen und Nordrhein-Westfalen, Michael Kretschmer und Hendrik Wüst (beide CDU).
Beratung über mögliche Konsequenzen
Unter dem Motto „Bis hierhin und nicht weiter“ haben sich Politiker fast aller großen Parteien gemeinsam gegen Gewalt in der politischen Auseinandersetzung gewandt und sich gegenseitigen Respekt zugesagt. Am Wochenende hatten weit mehr als 100 Abgeordnete diverser Parlamente die sogenannte Striesener Erklärung unterschrieben, darunter die Vorsitzenden von SPD, Grünen und Linken sowie Abgeordnete der Union. Die Erklärung wendet sich gegen „die immer weiter eskalierende Gewalt gegen politisch engagierte Menschen im öffentlichen Raum“. Der SPD-Politiker wurde im Dresdner Stadtteil Striesen angegriffen.
Bund und Länder wollen morgen über mögliche Konsequenzen aus der Gewalt beraten. Das kündigte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Brandenburgs Ressortchef Michael Stübgen (CDU), an: „Ich werde meinen Länderkollegen den kommenden Dienstag als Termin für ein informelles Treffen auf Ebene der Innenministerkonferenz vorschlagen.“
SPD-Politiker liegt im Krankenhaus
Ecke ist sächsischer SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl. Dem 41-Jährigen geht es nach dem Angriff den Umständen entsprechend gut. Er sei operiert worden, sagte Sachsens SPD-Chef Henning Homann in der Landeszentrale in Dresden. Er habe einen Bruch des Jochbeins und der Augenhöhle sowie Hämatome im Gesicht erlitten.
Die SPD Sachsen geht davon aus, dass er seinen Wahlkampf fortsetzen wird. Das sei jedoch nicht der Aspekt, der aktuell im Vordergrund stehe, hieß es.
Kurz vor dem Angriff auf Ecke hatte laut Polizei mutmaßlich dieselbe Gruppe in der Nähe einen Wahlkampfhelfer der Grünen ebenfalls verletzt. Laut Polizeiangaben vom Samstag werden die vier Männer auf 17 bis 20 Jahre geschätzt - sie sollen dunkel gekleidet gewesen sein. Ein Zeuge habe sie dem rechten Spektrum zugeordnet.
Der 17-Jährige, der sich stellte, sei bisher nicht polizeilich in Erscheinung getreten, berichtete das LKA. Er sei nicht in Gewahrsam, da nicht davon auszugehen sei, dass er untertauche. Die drei anderen Tatverdächtigen sind weiter unbekannt.
Gewalt auch gegen Politiker anderer Parteien
Auch andere Parteien sind Ziel von Angriffen: Im niedersächsischen Nordhorn wurde am Samstagmorgen ein AfD-Landtagsabgeordneter nach Polizeiangaben an einem Infostand geschlagen. In Dresden attackierten zwei 23-jährige Frauen und ein 28-jähriger Mann am Samstag unvermittelt einen Informationsstand der Partei und beschädigten Aufsteller, Plakate und einen Tisch, wie die Polizei mitteilte. Der Betreiber des Stands wurde nicht verletzt. Die Polizei stellte die Tatverdächtigen nach Hinweisen von Zeugen.
Zudem beschädigte laut Polizei eine Gruppe von 20 Jugendlichen in der Nacht zu Sonntag in Dresden augenscheinlich wahllos 21 Wahlplakate der AfD, der FDP, der CDU und der Linken. Eine Zeugin rief die Polizei, die einen 17-Jährigen ertappte, als er in der Schandauer Straße - wo Ecke und der Grünen-Helfer angriffen wurden - ein Plakat der Linken zerstörte.
Die Vorfälle reihen sich ein in eine bundesweite Folge von Angriffen auf Parteimitglieder vor den Kommunal- und Europawahlen am 9. Juni: Am Donnerstag waren in Essen der Bundestagsabgeordnete Kai Gehring (Grüne) und sein Parteikollege Rolf Fliß nach eigenen Angaben attackiert und Fliß geschlagen worden. Bundestagsvizepräsidentin Katrin-Göring-Eckardt (Grüne) war vor einigen Tagen in Ostbrandenburg nach einer Veranstaltung aggressiv bedrängt und länger an der Abfahrt gehindert worden.
Grüne zunehmend im Visier von Angreifern
Die Zielgruppe der Angreifer hat sich zuletzt etwas verlagert: Waren noch 2019 vor allem Vertreter der AfD Ziel von Anfeindungen, so sind es nun die Grünen. Für die AfD wurden im vergangenen Jahr nach vorläufigen Zahlen bundesweit 478 Fälle aktenkundig, für die Grünen 1219. Für die SPD waren es 420, für andere Parteien weniger - insgesamt wurden 2790 solche Straftaten gemeldet, wie die Regierung auf eine AfD-Anfrage mitteilte.
Die Grünen fordern daher mehr Schutz im Wahlkampf. „Die Innenministerinnen und -minister müssen jetzt Konzepte zum bestmöglichen Schutz von Politikerinnen und Politkern und vor allem von ehrenamtlich engagierten Wahlkämpfenden vorlegen“, sagte die Bundesgeschäftsführerin Emily Büning der Deutschen Presse-Agentur. Essenziell sei die Zusammenarbeit mit der Polizei und den Landeskriminalämtern. „Wie werden in unseren Kreisverbänden jetzt noch einmal die Empfehlung verstärken, dass jede Veranstaltung und jede Wahlkampfaktion den Sicherheitsbehörden vorab gemeldet werden sollte.“
Solidaritätsbekundungen für angegriffenen Politiker Ecke
Parteiübergreifend verurteilten Politiker Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte: „Die Demokratie wird von so etwas bedroht, und deshalb ist achselzuckendes Hinnehmen niemals eine Option.“ Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) erklärte zu den Attacken: „Sie sind der widerliche und unentschuldbare Ausfluss einer Verrohung von Sprache, Debatte und der Enthemmung in den sogenannten sozialen Medien.“ Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb auf der Plattform X: „Gewalt ist kein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Von niemandem. Gegen niemanden. Punkt.“ Finanzminister Christian Lindner (FDP) mahnte auf X: „Die Enthemmung der politischen Auseinandersetzung betrifft uns alle. Jeder kann der nächste sein.“
CDU-Chef Friedrich Merz appellierte, „Wahlkämpfe mit dem gebotenen Respekt und vor allem ohne jede Aggression, vor allem ohne tätliche Gewalt auszuüben“. Dies gelte unabhängig davon, welcher Partei die Wahlkämpfer angehörten, „meiner eigenen, der SPD, der Grünen, der FDP, wem auch immer“.
Auch der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla, dessen Partei von einigen für eine Gewalt fördernde Atmosphäre verantwortlich gemacht wird, schrieb auf der Plattform X: „Physische Angriffe gegen Politiker aller Parteien verurteilen wir zutiefst. Wahlkämpfe müssen inhaltlich hart und konstruktiv, aber ohne Gewalt geführt werden.“
Kretschmer: Es ist fünf vor Zwölf
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat die wachsende Aggressivität und zunehmende Gewalt innerhalb der Gesellschaft verurteilt. „Das sind Feinde der Demokratie (...) Es ist wirklich fünf vor Zwölf“, sagte er in der ARD-Sendung „Caren Miosga“. Dem gelte es ein Stopp-Zeichen entgegenzusetzen.
Man habe es immer noch in der Hand, Dinge zu verändern. Es gebe aber eine neue Qualität. Das dürfe nicht unwidersprochen bleiben. Rechtspopulisten würden die Bevölkerung anstacheln. Kretschmer sah die Verantwortung auch bei der AfD. Die geistigen Brandstifter seien 2017 in den Bundestag eingezogen. Seither würden Leute wie er als „Volksverräter“ und die EU als „Irrenhaus“ dargestellt.
Verband nach Angriffen in Sorge
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, André Berghegger, hat sich angesichts der Gewalt gegen Politiker und Wahlhelfer insbesondere mit Blick auf anstehende Kommunalwahlen besorgt geäußert. Dieses Jahr würden neben der Europawahl und drei Landtagswahlen auch Kommunalwahlen in neun Bundesländern stattfinden, sagte er. „Im Jahr 2024 werden in rund 6000 Städten und Gemeinden mehr als 110.000 Mandate neu gewählt“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Daher gäben die Ereignisse der vergangenen Tage Anlass zu großer Sorge.
Faeser fordert mehr Polizeipräsenz für Wahlkämpfer
Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert einen besseren Schutz von Politikern und Helfern im Wahlkampf. „Wir brauchen noch mehr sichtbare Polizeipräsenz vor Ort, um Demokraten an Wahlkampfständen und bei Veranstaltungen zu schützen“, sagte die SPD-Politikerin der „Rheinischen Post“.
„Rechtsstaatlich müssen wir jetzt mit mehr Härte gegen Gewalttäter und mehr Schutz für die demokratischen Kräfte handeln“, betonte sie. Darüber werde sie „sehr schnell“ mit den Innenministern der Länder beraten.
Forderung nach schärferen Strafen für die Angreifer
Der Präsident des Deutschen Städtetags, Markus Lewe, forderte schärfere Strafen. „Wir müssen politisch Engagierte besser schützen. Dabei könnte auch eine Strafrechtsverschärfung helfen, die Nachstellungen, Aufmärsche vor Wohnhäusern und Drohungen gegen die Familie von Politikerinnen und Politikern verfolgt“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Montag).