Dresden. Lina E. soll hinter Gitter, weil sie maßgeblich für Überfälle auf Neonazis verantwortlich gemacht wird. Zum Abschluss der Urteilsbegründung gibt es eine Überraschung. Zu Ausschreitungen kommt es am Abend dennoch.
Das Oberlandesgericht Dresden hat die mutmaßliche Linksextremistin Lina E. wegen mehrerer Angriffe auf Rechtsextreme zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt.
Trotzdem kommt die 28 Jahre alte Studentin nach zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft vorerst frei: Das Gericht Oberlandesgericht sieht keinen Grund für Spekulationen, warum der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wurde. OLG-Sprecher Torsten Umbach sprach von einem üblichen Verfahren für nicht vorbestrafte Beschuldigte. Wer das erste Mal eine Strafe verbüße, werde zudem in der Regel nach zwei Drittel der Zeit entlassen - wenn er sich gut geführt habe und keine besondere Gefahr von ihm ausgehe. Die Reststrafe muss sie erst verbüßen, falls das Urteil rechtskräftig ist - das Gericht ließ Revision zu.
Jubel bei den Unterstützern
Die Unterstützer von Lina E. brachen in Jubel aus, als der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats am Mittwochabend die Aussetzung des Haftbefehls verkündete. Bei der Verkündung des Strafmaßes am Vormittag war die Stimmung noch ganz anders: Sie skandierten Sprechchöre, erklärten den Vorsitzenden Richter zum „Fascho“-Freund und geißelten die „Scheiß-Klassenjustiz“. Die mehr als neun Stunden dauernde Urteilsverkündung wurde wegen kleiner Tumulte mehrfach unterbrochen.
Gegen die drei Mitbeschuldigten von Lina E. verhängte die Staatsschutzkammer Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren fünf Monaten und drei Jahren drei Monaten. Nach Ansicht der Kammer sind Lina E. und ein gleichaltriger Mann der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung schuldig; ein 37-Jähriger und ein weiterer 28-Jähriger wegen deren Unterstützung. E. und zwei der Männer mussten sich zudem wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten, der andere wegen einer Beihilfe dazu.
Die Verteidigung von Lina E. kündigte Revision an, das Strafmaß sei viel zu hoch, sagte Verteidiger Ulrich von Klinggräff. „Die Haftverschonung war längst überfällig.“
Demonstrationen in mehreren Städten
In mehreren Städten gab es am Mittwochabend Proteste gegen das Urteil. Dabei kam es teilweise zu Ausschreitungen und Zusammenstößen. In Leipzig wurde eine Versammlung nach Angaben eines Polizeisprechers für beendet erklärt, nachdem Flaschen und Pyrotechnik in Richtung der Beamten geworfen worden seien. In der Bremer Innenstadt hätten sich rund 350 meist vermummte Personen versammelt und seien dann „relativ schnell und unvermittelt“ auf Einsatzkräfte losgegangen, sagte eine Sprecherin der Polizei. Solidaritätskundgebungen für Lina E. gab es unter anderem auch in Berlin, Hamburg und Dresden.
Für kommenden Samstag war bundesweit zu Demos aufgerufen worden. Im Internet tauchten Drohungen auf, wonach für jedes Jahr Haft in Leipzig ein Sachschaden von einer Million Euro angerichtet werden soll. Unklar war am Abend, ob die Aufhebung des Haftbefehls zu einer Entspannung der Lage beiträgt.
Das Gericht blieb mit dem verhängten Strafmaß unter den Anträgen der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten eine „militant- linksextremistische Ideologie“ bescheinigt hatte. Für die aus Kassel in Hessen stammende junge Frau hatte sie acht Jahre Freiheitsstrafe gefordert.
Zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft
Strafmildernd wirkte bei Lina E. nicht nur der Umstand, dass sie nicht vorbestraft ist und schon seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzt. Schlüter-Staats sieht bei ihr auch die Persönlichkeitsrechte durch die mediale Berichterstattung verletzt und sprach von einer Vorverurteilung. Allerdings räumte das Gericht der 28-Jährigen eine hervorgehobene Bedeutung in der Gruppierung ein, jedoch „keine prägende im Sinne einer Rädelsführerschaft“.
Der Generalbundesanwalt warf den Beschuldigten vor, zwischen 2018 und 2020 tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der rechten Szene in Leipzig, Wurzen und Eisenach brutal zusammengeschlagen zu haben. Ein Kronzeuge hatte sie belastet. Er berichtete von regelmäßigen Trainings für die Angriffe. Laut Anklage wurden 13 Menschen verletzt, zwei davon potenziell lebensbedrohlich. Die Beschuldigten hätten den demokratischen Rechtsstaat ebenso abgelehnt wie das staatliche Gewaltmonopol, lautete eine weitere Anschuldigung.
Angriff auf Kanalarbeiter
In seinen Vorbemerkungen ging Schlüter-Staats auf die brutalste Tat ein: Im Januar 2019 traf es einen Kanalarbeiter, der im Leipziger Szene-Viertel Connewitz arbeitete und nur „die falsche Mütze am falschen Ort trug“, wie Schlüter-Staats es ausdrückte. Denn das Label der Mütze ist bei Rechtsextremen beliebt. Der Mann erlitt schwerste Kopfverletzungen. Die Tat zeige, wohin militanter Antifaschismus führe könne, sagte der Vorsitzende Richter.
Schlüter-Staats befasste sich zudem mit dem Vorwurf der Verteidigung, das Verfahren sei ein „politischer Prozess“, und stimmte dem sogar zu. Die Taten seien aus einer politischen Motivation heraus begangen worden - dem Kampf gegen den Faschismus. Von rechter Gewalt gehe derzeit die größte Gefahr in Deutschland aus. Sich Rechtsextremen entgegenzustellen sei ein „achtenswertes Motiv“, rechtfertige aber nicht die angeklagten Fälle. „Es bleiben schwere Straftaten.“
Das Gericht sah auch den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung erfüllt. Dafür spreche nicht nur der übergeordnete Zweck der Gruppierung und die fortdauernde Begehung von Straftaten. Es habe auch ein Mindestmaß an verfestigten organisatorischen Strukturen gegeben.
Unterstützer zeigen sich entsetzt
Der Prozess unter hohen Sicherheitsvorkehrungen hatte im September 2021 begonnen. Lina E. war da schon zehn Monate in Untersuchungshaft, die drei Männer indes weiter auf freiem Fuß. Bis auf Angaben zur Person schwiegen sie zu den Vorwürfen. Nur E. ergriff beim „letzten Wort“ die Chance und bedankte sich bei ihrer Familie, Anwälten und Unterstützern. Sie protestierten auch am Abschlusstag vor dem Gericht. „Wir sind entsetzt, wütend und noch immer sprachlos“, hieß es in einem vor mehreren Dutzend Teilnehmern in Zelten verlesenen Grußwort der Angeklagten-Mütter. Sie kritisierten scharf, „mit welcher Härte linke Strukturen verfolgt werden“, während Neonazis Schonbehandlung erhielten. „Was für eine Farce.“
Die Verteidigung hatte von Anfang an den Umstand moniert, dass die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen an sich zog. Allein das habe zu höheren Strafanträgen geführt, argumentierten sie in ihren Plädoyers, die auf Freisprüche zielten. Sie sahen ihre Mandanten einer Vorverurteilung ausgesetzt und warfen den Bundesanwälten vor, bei rechten und linken Straftätern unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen. Dem Gericht wurde unterstellt, voreingenommen zu sein.
Aus Sicht der Bundesanwaltschaft stellt das Urteil klar, dass es „keine gute politische Gewalt“ gibt. „Der Rechtsstaat nimmt es nicht hin, dass einzelne aufgrund einer vermeintlich besseren Ideologie das Recht in die eigene Hand nehmen und mit Gewalt gegen politische Andersdenkende vorgehen“, sagte Bundesanwältin Alexandra Geilhorn.
Experten befürchten Radikalisierung der linken Szene
Was Sicherheitsbehörden nun umtreibt, ist nicht zuerst die unmittelbare Reaktion auf das Urteil. Experten befürchten eine Radikalisierung der linken Szene und sehen seit längerem Belege dafür, etwa was das Vorgehen gegen „politische Gegner“ betrifft. Laut Verfassungsschutz sinkt die Hemmschwelle zur Ausübung von Gewalt immer mehr, von einer „besorgniserregenden Entwicklung“ ist die Rede. Es gehe nicht mehr nur um Sachbeschädigungen, sondern um gezielte Attacken auf Personen. Selbst deren Tod werde in Kauf genommen.
Dirk Münster, Chef des Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus- Abwehrzentrums beim Landeskriminalamt Sachsen, misst dem Verfahren gegen Lina E. große Bedeutung zu. „Im Grunde genommen haben wir gerade erst angefangen“, sagte er kürzlich einer Zeitung. Tatsächlich gibt es Ermittlungen gegen weitere Personen aus dem Umkreis von E. Einige von ihnen sind abgetaucht.