Die Polizei geht gegen Islamisten vor – trotzdem gibt es die Gefahr von Anschlägen. Bis zu 20 von bundesweit etwa 230 gewaltbereiten „Gefährdern“ halten sich in Hamburg auf. Das Abendblatt beantwortet Fragen.
Hamburg. Die Terroristen der Pariser Attentate waren keine Unbekannten. Der Geheimdienst hatte sie noch bis vor etwa einem Jahr beobachtet, hörte ihre Telefongespräche mit, die Männer standen auf Terrorlisten der USA, die französischen Dienste wussten das. Und dennoch konnte die Polizei das Blutbad nicht verhindern. Und gerade Deshalb läuft nun eine Debatte über die Fehler der Ermittler und die Konsequenzen für die Sicherheitsarchitektur – auch in Deutschland. Wer mit Geheimdienstlern hierzulande spricht, hört immer wieder einen vagen Satz: „Es gibt eine abstrakt hohe Terrorgefahr.“ Die Sicherheitsbehörden wissen von keinen konkreten Plänen von Anschlägen. Auch die Innenbehörde in Hamburg sieht nach den Attentaten von Paris und den Brandanschlag auf die „Morgenpost“ keine gewachsene Gefahr für die Stadt. Und doch will niemand weiteren Terror ausschließen. Unsicherheit ergreift auch den Sicherheitsapparat. Das zeigt, wie schwierig der Kampf gegen den Terror ist.
Wie sicher ist Deutschland?
Die Gefahr ist nicht vorbei: Experten warnen akut vor Nachahmern, die durch Medienberichte über IS-Propaganda und Attentate wie in Paris selbst als sogenannte Gotteskrieger Gewalt ausüben. Diese „Copycats“ sind die nur eine Bedrohung. US-Geheimdienste warnen zudem vor einer neuen Terrorwelle in Europa durch Netzwerke wie al-Qaida oder dem „Islamischen Staat“ (IS). Paris sei nur der Anfang gewesen, heißt es. Und das Attentat zeigt: Da Sprengstoffanschläge teuer und technisch aufwendig sind, attackieren Islamisten gezielt einzelne symbolträchtige Orte mit Handfeuerwaffen. Kalaschnikows sind für Terrorgruppen einfacher zu besorgen und auch günstiger. Im Fokus der Terroristen sind neben Amerika vor allem Frankreich und Großbritannien. Beide europäischen Länder beteiligen sich deutlich stärker am Kampf gegen den IS in Syrien und Irak als die Bundesrepublik. In Frankreich fühlen sich Muslime in der Mehrheit stärker ausgegrenzt als in Deutschland. Soziale Spannungen nutzen Terrorgruppen aus, um Kämpfer zu gewinnen. Rund 1200 junge Franzosen waren oder sind in Syrien und dem Irak. Aus Deutschland sind es 550. Doch auch hier sehen Polizei und Verfassungsschutz vor allem in Rückkehrern aus dem Kriegsgebiet eine Gefahr. Sie könnten den Auftrag haben, den „Heiligen Krieg“ hier weiterzuführen. Mit jedem Kontakt zu Dschihadisten aus Deutschland spinnen IS oder al-Qaida ihr globales Netzwerk weiter.
Wie viele Extremisten sind gewaltbereit?
Von den 7000 Islamisten in Deutschland gelten laut Sicherheitsbehörden etwa 230 als gewaltbereite „Gefährder“, als Extremisten, denen Anschläge zugetraut werden. In Hamburg sollen es bis zu 20 Personen sein. Nicht wenige der Radikalen sind Konvertiten aus nicht-muslimischen Familien. Polizei und Verfassungsschutz observieren deren Wohnungen und überwachen, mit wem sich die Person trifft. Häufig werden auch Telefonate, Emails und Aktivitäten in sozialen Netzwerken beobachtet. Eine solche 24-Stunden-Überwachung aber bindet zwischen 15 und 30 Beamte. Selbst in den großen Bundesländern können die Behörden daher maximal zehn Extremisten umfassend observieren. In Frankreich kritisieren Experten die Geheimdienste nun: Sie hätten zu stark auf technische Überwachung gesetzt und zu wenig auf die Arbeit von Agenten auf der Straße.
Mit welchen Maßnahmen will der Staat gegen Islamisten vorgehen?
Die Innenminister der EU wollen sich am Freitag erneut zu einem Krisengipfel treffen. Vor allem den Austausch von Daten im Schengener Raum wollen sie verbessern. Die EU hat mit Gilles de Kerchove zudem einen eigenen Anti-Terror-Koordinator. Die Bundesregierung macht sich für den Austausch und die Speicherung von Fluggastdaten in Europa stark. Das EU-Parlament sah diesen Vorstoß bisher kritisch. Während CDU und CSU Daten von Telefonaten und aus dem Internet speichern lassen wollen, ist die SPD gegen eine Vorratsdatenspeicherung. Dennoch setzt die Große Koalition auf mehrere Gesetze, die sie in den kommenden Wochen verabschieden will, wie Justizminister Heiko Maas (SPD) am Montag ankündigte: etwa Strafen für jedwede finanzielle Unterstützung von Terror-Organisationen und die schärfere Bestrafung von Reisen in Terrorcamps. Das nachzuweisen, ist jedoch schwierig. Und: Die Kenntnisse der deutschen Geheimdienste enden oftmals an der Grenze. Zudem hinken die Behörden mühsam hinterher. Denn sie müssen erst einmal mitbekommen, dass geschulte Kämpfer aus Kriegsgebieten zurückkehren. In Hamburg wurde 2014 ein junger Mann nach seiner Rückkehr aus Pakistan zu drei Jahren Haft verurteilt, da er sich dort al-Qaida angeschlossen hatte.
Welche Möglichkeiten gibt es, die Ausreise von Dschihadisten zu verhindern?
Die Bundesregierung will den Behörden in diesen Wochen per Gesetz den Entzug des Personalausweises für ausreisewillige Dschihadisten ermöglichen. Bisher kann neben Meldeauflagen der Reisepass entzogen werden. Doch in mindestens 20 Fällen seit 2012 sind junge Dschihadisten aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak ausgereist – trotz Entzug des Reisepasses und Ausreiseverbots. Das geht aus einer bisher nicht veröffentlichten Antwort des Bundesinnenministeriums auf Anfrage der Linksfraktion hervor, die dem Abendblatt vorliegt. „In mindestens 20 Fällen kann nachvollzogen werden, dass eine Ausreise trotz bestehender Verfügung, Deutschland nicht zu verlassen, und entsprechenden Entzugs des Reisepasses erfolgte und diesen Personen ein Personalausweis zur Verfügung stand“, heißt es in der Antwort. Danach nutzten die Personen den Landweg über die Türkei nach Syrien, für die der Personalausweis ausreicht. Auch seien Fälle bekannt, in denen Islamisten über Nachbarstaaten wie Belgien oder die Niederlande in Richtung Dschihad aufgebrochen waren, um so den deutschen Fahndungsdateien zu entgehen. Die genauen Umstände der Ausreise dieser 20 potenziellen Kämpfer seien jedoch nicht mehr zu rekonstruieren, heißt es. Die Bundesregierung sei sich jedoch bewusst, dass auch durch den Entzug des Personalausweises nicht jede Ausreise von potenziellen Dschihadisten verhindert werden könne.
Wie viel Datenschutz verträgt der Anti-Terror-Kampf?
Sicherheit und Freiheit stehen immer in einem Spannungsfeld. Die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung belegt das. Die Speicherung der Telekommunikations-Verbindungsdaten sei zur Stärkung der inneren Sicherheit unerlässlich, heißt es in der CSU. SPD, Grüne, Linke und FDP sind dagegen. Justizminister Maas (SPD) verweist darauf, dass die in Frankreich existierende Vorratsdatenspeicherung die Anschläge nicht verhindert habe und nach dem Bundesverfassungsgericht auch der Europäische Gerichtshof bisherige Regelungen dazu gekippt hatte. Aufgrund des anhaltenden Koalitionsstreits sowie der derzeit unklaren europäischen Rechtslage ist kein diesbezügliches Gesetz in Sicht.
Warum können radikale Muslime wie Pierre Vogel offen im Internet predigen?
Die Predigten von Islamisten im Internet sehen die Behörden als besonders wirksam für eine Radikalisierung von jungen Menschen an. Der bekannte Salafist Pierre Vogel hat auf Facebook knapp 100.000 Fans. Nach den Anschlägen von Paris distanziert er sich zwar von Gewalt, polemisiert aber offen gegen die westlichen Werte von Demokratie und Menschenrechte. Doch das Recht auf Meinungsfreiheit macht Strafverfahren gegen solche Internet-Imame schwierig. Vogel wisse sehr gut, wie weit er mit Hassparolen gehen könne, sagen die Behörden. Immer wieder ließ die Bundesregierung islamistische Vereinigungen in Deutschland verbieten, Razzien und Strafverfahren waren die Folge. Auch einer der Attentäter von Paris saß bereits für mehrere Jahre in Frankreich in Haft. Nun Doch warnen Kriminologen, dass viele Kriminelle erst in der Haft zu militanten Islamisten würden. Die Resozialisierungsprogramme seien oft ein Fehlschlag.