Prof. Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte und Fraktionsvize der SPD im Bundestag, spricht im Interview über die Infektionsgefahr durch mangelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern.

Hamburg. Die Große Koalition in Berlin will gefährliche Keiminfektionen in Krankenhäusern durch bessere Hygiene und strengere Vorschriften bekämpfen. Entsprechende Pläne des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach stoßen bei der Union auf Zustimmung. Das Ziel: ein verschärftes Infektionsschutzgesetz.

Lauterbach sieht „ein riesiges Problem bei der Hygiene“ in deutschen Kliniken. „Der größte Teil der vermeidbaren Todesfälle und auch der größte Teil der vermeidbaren schweren Komplikationen dort ist auf Hygienefehler zurückzuführen“, sagte der SPD-Bundestagsfraktionsvize den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, zu der auch das Abendblatt gehört, im folgenden Interview.

Hamburger Abendblatt: Aufgrund mangelnder Hygiene infiziert sich jedes Jahr eine Million Patienten in deutschen Krankenhäusern mit Keimen, rund 40.000 sterben daran. Was läuft hier falsch?

Karl Lauterbach: Der größte Teil der vermeidbaren Todesfälle in deutschen Krankenhäusern und auch der größte Teil der vermeidbaren schweren Komplikationen dort ist auf Hygienefehler zurückzuführen. Das ist aus Studien ableitbar. Es gab schon verschiedene Bemühungen, die Hygienevorschriften zu verbessern oder Hygienestandards durchzusetzen. Aber sie reichen bei weitem nicht aus, weil sich in der Praxis weniger geändert hat als auf dem Papier. So können in Deutschland nach wie vor viele Krankenhäuser, was den Hygienestandard angeht, im internationalen Vergleich mit ausländischen Kliniken leider nicht mithalten.

Wer oder was verhindert, dass die Praxis vom Papier in die Klinik kommt?

Lauterbach: Ganz einfach: Wir sind jetzt gefordert, in der Politik verbindliche Vorgaben zu machen und diese auch unabhängig zu überprüfen. In der Vergangenheit ist es immer so gewesen, dass sich der Patient am Ende nicht durchsetzen konnte. In der Politik waren die Lobbyisten einflussreich genug, um insbesondere bei den FDP-Gesundheitsministern zu verhindern, dass Hygienestandards so eingefordert werden, dass man die Nichteinhaltung bestrafen kann. Kurz gesagt: Die Lobbygruppen im System haben verhindert, dass die Gesetze so sind, dass sich viel ändert.

Wer hatte da welche Aktien?

Lauterbach: Die Dinge lagen unterschiedlich. Der damalige Minister Rösler verstand sich in erster Linie als Wirtschaftsminister im Amt des Gesundheitsministers, schon bevor er Wirtschaftsminister war. Er hat die wirtschaftlichen Interessen der Krankenhäuser außerordentlich ernst genommen. Die Interessen der Patienten sind im Vergleich dazu deutlich kürzer gekommen. Von daher waren seine Bemühungen sehr eingeschränkt. Bei Minister Bahr war mehr Verständnis für die Sache da. Aber er musste als FDP-Gesundheitsminister natürlich auf die gesamte Wirtschaftspolitik seiner Partei Rücksicht nehmen. Meine Wahrnehmung: Bahr selbst wäre alleine wahrscheinlich zu mehr bereit gewesen. Aber die FDP insgesamt ist für so ein wichtiges Ministerium wie das Gesundheitsministerium nie die richtige Partei gewesen. Aus dieser Perspektive zumindest, ist es kein Verlust, dass sie nicht mehr mit uns im Bundestag ist.

Verbindliche Vorgaben unabhängig überprüfen, sagen Sie. Welche Vorgaben? Und wie kontrollieren?

Lauterbach: In Deutschland haben wir noch nie so viele Ärzte in Brot und Arbeit gehabt wie heute. Wir haben das höchste Ärzteaufkommen in deutschen Krankenhäusern jemals: etwa 130.000 Ärzte. Gleichzeitig ist aber die Zahl der tatsächlich nur für die Hygiene zuständigen Ärzte minimal. Es gibt viele große Krankenhäuser, die haben überhaupt keinen Hygienearzt. Man muss sich das vorstellen: Obwohl die Hygiene für das Überleben des Patienten von allergrößter Bedeutung ist, haben wir nicht ein Fünzigstel so viele Hygieneärzte wie zum Beispiel Narkoseärzte. Wenn wir politisch vorgeben, was ich schon seit Jahren fordere und worauf wir in der großen Koalition auch zurückkommen werden, dass Krankenhäuser ab einer gewissen Größe auch einen Hygienearzt haben müssen, der dafür zuständig ist, dass die Patienten möglichst nicht an Hygieneproblemen während ihres Aufenthaltes versterben, dann wäre sehr viel gewonnen. Das ist eine Maßnahme.

Die aber nicht ausreichen wird.

Lauterbach: Nein. Es braucht mehr. Zweitens: Auch im Rahmen der pflegerischen Tätigkeit ist oft für die Einhaltung der Hygienestandards nicht genug Zeit, weil es nicht genug Pflegekräfte gibt. Wir haben zwar sehr viele Ärzte in den Kliniken, aber an Pflegepersonal mangelt es. Somit muss der Pflegestandard verändert werden. Wir brauchen mehr Pflegekräfte, die sich der Umsetzung der Hygienestandards widmen können. Und zum Dritten: Durch entsprechende Kontrollen muss eingefordert werden, dass die Hygienestandards eingehalten werden. Heute genügt ein Besuch in einer Klinik, um sich ein Bild davon zu machen, dass viele Krankenschwestern die Zimmer der Patienten immer noch betreten und danach wieder herausgehen, ohne sich zu desinfizieren.

Es soll auch Chefärzte geben, die so unterwegs sind.

Lauterbach: Stimmt. Aber der Chefarzt betritt das Zimmer nicht so häufig wie die Pflegekraft, die sozusagen an einem Nachmittag mehrere Hundert Mal unterschiedliche Patienten anfasst. Somit ist die Umsetzung dieser Hygienevorschriften die erste Pflicht. Von löblichen Ausnahmen abgesehen, die es natürlich auch gibt, ist die Hygiene-Praxis in deutschen Kliniken leider noch weit von dem entfernt, was Sicherheit im Krankenhaus gewährleisten würde.

Sie sprechen von Kontrollen. Vor Hygiene-Kontrollen müssen Kliniken wenig Angst haben. Fast nie kommen Prüfer unangekündigt ins Haus. Meist melden sie sich Wochen vorher an…

Lauterbach: Ja.

…und wenn sie dann kommen, ist alles sauber. Sind unangemeldete Kontrollen nicht sinnvoller als solche? Plötzliche Abklatschuntersuchungen oder Wischproben zur Prüfung der Flächendesinfektion? Schon die Ahnung, dass sowas jederzeit passieren kann, kann für mehr Hygiene im Krankenhaus sorgen.

Lauterbach: Die einzelnen Maßnahmen, die sinnvoll wären, würden den Rahmen dieses Gespräches sprengen. Wir haben dazu in der letzten Legislaturperiode einen ganzen Gesetzentwurf vorgelegt. Es ist richtig, dass unangemeldete Kontrollen eine Rolle spielen können. Andererseits ist die Hauptinfektionsquelle nicht die Fläche, sondern der Mensch: die menschlichen Kontakte, das Anfassen, die Übertragung von Krankheitserregern, das Eindringen der Keime in die Wunde. Die Flächendesinfektion ist von großer Bedeutung, keine Frage. Aber das Kernproblem, die Übertragung von Patient zu Patient über einen anderen Menschen, ist sehr häufig das Personal.

Die Augusta-Klinik in Bochum hat jedem Mitarbeiter das Händeschütteln per Dienstanweisung verboten, vom Chefarzt bis zur Pflegerin, aus hygienischen Gründen. Viele Patienten sehen das wohlwollend, weil sie gesund werden wollen statt gehätschelt. Ihre Meinung?

Lauterbach: Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die Studien dazu sind sehr unterschiedlich. Es gibt Länder, in denen Händeschütteln durchweg praktiziert wird, wo die Hygieneprobleme aber trotzdem seltener sind. Grundsätzlich ist das Händeschütteln in Krankenhäusern schon stark zurückgegangen. Aber das eigentliche Problem ist die Keimübertragung von Körper zu Körper – durch das Anfassen der Wunde oder des Wundbereiches oder des Körpers des Patienten. Und über den indirekten Weg, etwa über Türklinken: Der Patient fasst sie an und holt sich dort dann den Keim. Es muss ein Gesamtpaket her. Eben dafür gibt es Hygieneärzte. Die können die Schwachpunkte der eigenen Klinik genau analysieren. Und sie tragen am Ende die Verantwortung dafür, dass die Situation besser wird. Ich brauche den Spezialisten im Haus, nicht eine öffentlichkeitswirksame Einzelmaßnahme, deren Erfolg abzuwarten ist.

Dieser Hygienearzt sollte autonom sein, entscheidungs- und weisungsbefugt auch gegenüber dem Chefarzt.

Lauterbach: Die Frage der Weisungsbefugnis ist zweitrangig. Wichtig ist erst einmal, dass der Hygienearzt allein für die Krankenhaushygiene zuständig ist, dass es nicht ein Internist oder ein Chirurg im Nebenberuf ist, der dann ab und zu auch zu Hygienefragen Stellung nimmt oder herangezogen wird, wenn es ein Hygieneproblem gibt. Der Hygienearzt ist der Arzt, der sich ausschließlich damit auseinandersetzt. Ob dazu eine formal-rechtliche Weisungsbefugnis notwendig ist, das ist eine andere Frage. Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Aber es gibt auch gut funktionierende Hygieneärzte, die nicht weisungsbefugt gegen andere Chefärzte sind. Ich würde das Problem eher so angehen, dass es den geringstmöglichen unnötigen Widerstand erzeugt. Wenn der Hygienearzt weisungsbefugt gegenüber den Chefärzten ist, wird das den Widerstand gegen die Hygieneärzte zunächst einmal maximieren. Ob wir dann tatsächlich etwas davon haben, sei dahingestellt. Es kann sein, dass es langfristig der einzige Weg ist, aber das haben wir noch nicht getestet.

Nochmal zu den Kontrollen: Vor angemeldeten Hygiene-Prüfungen sollen Akten manipuliert werden. Nachdokumentierungen von Maßnahmen, die einst verschlampt wurden, seien gängig, berichten Eingeweihte.

Lauterbach: Zunächst einmal glaube ich, dass es Ausnahmen sein dürften, wenn wegen einer Begehung Dokumentationen rückdatiert werden. Ich kenne mich in der Szene einigermaßen gut aus und sage, dass diese Praxis nicht weit verbreitet ist. Aber: Es gibt das auch. Das muss natürlich entsprechend bestraft werden. Dies ist ein weiterer Baustein in einem Bündel von Maßnahmen: Strafen bei Fälschungen von Dokumenten.

Gibt es keine technischen Möglichkeiten, solche Fälschungen auszuschließen?

Lauterbach: Doch, die gibt es. Es ist technisch möglich, jede Dokumentation so abzusichern, dass sie nachträglich nicht verändert werden kann. Dafür gibt es Spezialsoftware, die auch bei klinischen Studien eingesetzt wird. Diese Spezialsoftware dokumentiert jede nachträgliche Veränderung und verschlüsselt dabei sogar denjenigen, der nachträglich verändert hat, sodass alles nachvollziehbar ist. Aber das sind technisch sehr aufwändige Hilfsmaßnahmen, die auch sehr teuer sind. Viel schöner wär es doch, wenn es in den Krankenhäusern unter Anleitung von Hygieneärzten und Hygienefachkräften eine Kultur der Keimvermeidung gäbe, durch die es erst gar nicht zu Hygienemängeln kommt. In Ländern wie den Niederlanden hat sich eine Kultur des Vertrauens systematisch aufgebaut, weil Ärzte, Patienten und Pflegekräfte gemeinsam sehen, dass es bei der Hygiene ein riesiges Problem gibt, was auch unter Personalmangel gelöst werden muss. Dass wir das nicht länger akzeptieren dürfen – diese Einstellung, wie wir sie in den Niederlanden und in anderen Ländern bereits sehen, die muss auch in Deutschland kultiviert werden.

Weil Sie die Niederlande nennen: In Deutschland werden Keimausbrüche mit Infizierten und Toten vor der Öffentlichkeit verschwiegen. Begründung: Der betroffenen Klinik könnten wirtschaftliche Nachteile entstehen. So geschehen zuletzt 2013, bei Ausbrüchen von Vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE) im Uniklinikum Düsseldorf. In den Niederlanden wird per Presse, Funk und Fernsehen vor solchen Ausbrüchen gewarnt, damit sie nicht außer Kontrolle geraten. Darf der Profit über dem Patientenwohl stehen?

Lauterbach: Nein. Das ist unakzeptabel. Und in der Tat: Das gesamte Hygieneproblem in Krankenhäusern hat eine Dimension, die unterschätzt ist, die nicht hinzunehmen ist. Hier arbeiten die beschönigenden Kräfte Hand in Hand. Es sind ja nicht nur wirtschaftliche Interessen, die Hygieneregeln schädlicherweise entgegenstehen, was wir nicht akzeptieren dürfen. Leider ist es auch so, dass die Funktionäre der Ärzteschaft zum Teil das Problem verharmlosen statt es ehrlich darzustellen. Statt sich an die Spitze der Bewegung zu setzen und zum Beispiel für ein entsprechendes Gesetz zu kämpfen, und natürlich auch für die entsprechenden Mittel, entscheidet man sich für eine Verharmlosung der Probleme. Wir haben nach wie vor eine Kultur des Verharmlosens, des Vertuschens und des Ignorierens – und daran sind schon viele Patienten gestorben.

Transparenz wäre ein Rezept. Man könnte Kliniken verpflichten, ihre Infektionsraten zu veröffentlichen: Ein Überblick über die aktuelle Keimverbreitung im Internet.

Lauterbach: Das haben wir ja vor. Wir wollen die Qualitätsdaten der Krankenhäuser durch das neue Qualitätsinstitut, was wir gerade beschlossen haben, veröffentlichen. Dazu zählen selbstverständlich auch die Infektionsraten, die Komplikationen, die entsprechenden Behandlungen und Eingriffe.

Eine Bund-Länder-Kommission bastelt gerade an einer weiteren Gesundheitsreform. Wird das ein großer Wurf für die Krankenhaushygiene?

Lauterbach: Ich bin Mitglied der Kommission, genauso wie Bundesgesundheitsminister Gröhe. Die Krankenhaushygiene wird selbstverständlich eine große Rolle spielen. Das Problem ist erkannt, es wird ja auch im Koalitionsvertrag aufgegriffen. Ich habe in der letzten Legislaturperiode, noch gegen den damaligen FDP-Gesundheitsminister, entsprechende Gesetzentwürfe vorgetragen, die relativ weitgehend waren. Wir werden jetzt versuchen, gemeinsam mit der Union, die in diesem Punkt sehr beweglich ist, ein wirklich gutes Infektionsschutzrahmengesetz zu erarbeiten. Dafür ist die Bund-Länder-Kommission, die jetzt ihre Arbeit aufgenommen hat, der optimale Rahmen.

Aber die Krankenhauslobby schläft nicht: Das 2011 verschärfte Infektionsschutzgesetz wurde mit einer Wirksamkeitsprüfung in 2014 verbunden, obwohl die Übergangsfrist zur Erfüllung aller Vorgaben erst 2016 endet. Wer aber den Nutzen einer Vorschrift misst, die noch gar nicht gilt, wird wenig Nutzen erkennen. So führt man Gesetze ad absurdum.

Lauterbach: Ich bin kampferprobt, was den Einfluss der Lobbygruppen angeht. Mir sind deren Bemühungen weder neu, noch würde ich sie in irgendeiner Weise verharmlosen, vertuschen oder leugnen wollen. Ich glaube aber, dass die Dinge ein ganzes Stück nach vorne kommen. Ich kann es nur noch einmal betonen: Ein sehr, sehr wichtiges Problem in allen Krankenhausreformen der letzten Jahre war auf Bundesratsebene, wie auch auf Regierungsebene, wenn sie mitregiert hat, die FDP. Die FDP ist die Speerspitze der Krankenhauslobby in der Politik gewesen und hat durch ihre Arbeit in Koalitionen und durch die Verwässerung von bereits beschlossenen Gesetzen in wichtigen Punkten in den letzten 15 Jahren einen wesentlichen Anteil daran gehabt, dass wir in der Krankenhaushygiene nicht viel weiter gekommen sind. Das muss man leider so sagen.

Und das wird sich jetzt ändern?

Lauterbach: Ja. Daran glaube ich.