Bundespräsident Joachim Gauck erinnert am 70. Jahrestag an das Attentat auf Hitler – und schlägt den Bogen in die Gegenwart
Berlin. Genauer kann man eine Gedenkrede nicht terminieren. Auf die Minute 70 Jahre nach dem Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seinen Mitverschwörern auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 um 12.42 Uhr erinnerte Joachim Gauck am Sonntag an den aussichtsreichsten Versuch der Opposition, aus eigener Kraft die NS-Diktatur zu stürzen. Die Bombe erreichte zwar ihr Ziel nicht, Hitler überlebte die Explosion leicht verletzt, und auch der trotzdem eingeleitete Staatsstreich wurde binnen eines halben Tages brutal niedergeschlagen (siehe unten).
Das sei jedoch nicht entscheidend, hielt der Bundespräsident fest und fragte rhetorisch: „Wie bemessen wir überhaupt Erfolg und Scheitern in der Geschichte? Der zeitliche Abstand von 70 Jahren sollte uns Anlass sein, auch darüber nachzudenken.“ Wenn nämlich „das Wirken in die Welt hinaus und in die Zukunft hinein“ der Maßstab sei, so das Staatsoberhaupt in seiner Gedenkrede weiter, „dann sollten wir zumindest sehr vorsichtig sein mit Begriffen wie ,Scheitern‘ oder ,Misserfolg‘.“ Denn der 20. Juli und all die anderen Versuche des Widerstands gegen Hitler und das NS-Regime haben seinen Worten zufolge „nicht nur eine faktische Bedeutung, sondern sehr klar eine moralische – und bei genauer Betrachtung natürlich auch eine eminent politische“. Gauck betonte, dass die Bundesrepublik aus diesem Erbe, „Legitimation schöpfen“ konnte.
Kritik, die Offiziere des militärischen Widerstands hätten lange treu zu Hitler gestanden und seien deshalb nicht oder höchstens eingeschränkt erinnerungswürdig, wies Gauck klar zurück: „Die Männer und Frauen des 20. Juli fanden einen Ausweg aus ihrer eigenen Verstrickung, indem sie sich entschlossen, ihrem Gewissen zu folgen.“ Er zitierte zwei zentrale Passagen aus dem Entwurf der Regierungserklärung, die nach einem erfolgreichen Umsturz hätte verlesen werden sollen: „Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts.“ Noch wichtiger war dem Präsidenten aber ein weiterer Satz, der weiter hinten in dem Entwurf steht: „Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wiederhergestellt.“ Gaucks Lebensthema: Freiheit.
Entsprechend schlug er einen Bogen vom 20. Juli 1944 über den gescheiterten Volksaufstand gegen die SED-Diktatur in der DDR am 17. Juni 1953 bis zur erfolgreichen Friedlichen Revolution 1989/90 und erteilte allzu schlichten Deutungen eine Absage: „Widerstand ist nicht, Widerstand wird. Er mag mit leisen Zweifeln beginnen an dem, was man einmal für wahr gehalten, was man einmal geglaubt hat. Von einem bestimmten Punkt an braucht Widerstand jedoch den Mut zum Handeln.“
Diesen Mut aufzubringen sei der entscheidende Schritt, das eigentlich Lobenswerte. Denn in einer Diktatur könne das, anders als in stabilen rechtsstaatlichen Demokratien wie der Bundesrepublik, schnell harte Konsequenzen haben. „Natürlich: Es ist leicht, dies aus bequemem Abstand zu den damaligen Ereignissen auszusprechen“, räumte Gauck ein: „Und doch kennt jeder und jede Einzelne von uns jene innere Frage, auf die es eine leichte und gleichzeitig wahrhaftige Antwort schwer geben kann: Wie würde ich mich verhalten, wenn ich wüsste, dass der Preis meines Handelns Gefängnis, Folter oder gar das Ende meines Lebens sein kann? Brächte ich den Mut auf, und besäße ich ihn auch noch in der entscheidenden Stunde?“
Ausdrücklich bezog sich der Bundespräsident auch auf „alle diese anderen, die widerständig waren oder die unter den Folgen aufrechten Widerstands zu leiden hatten“. Sie alle wagten seinen Worten zufolge „das Letze für ein Land, das sie liebten, das sie bis zum Letzten gegen seine Feinde im Inneren verteidigten“. Aus dieser Beschreibung zog Gauck eine klare Botschaft für Gegenwart und Zukunft: „Wir, die heute Lebenden, sollten nicht beim Staunen über ihre mutige Tat stehen bleiben. Wir ehren sie und folgen ihnen nur, wenn wir uns fragen: Was kann ich tun, um fähig und bereit zu sein zu einem Leben in Verantwortung für dieses Land und seine Demokratie?“
Gauck nutzte die Ansprache auch, um ein weiteres klares Bekenntnis abzugeben: „Ich bin stolz auf eine Bundeswehr, die sich nicht auf obrigkeitsstaatliche Traditionen beruft, sondern auf Widerstand gegen das Unrecht. Ja, von diesem moralischen Erbe zehrt unser Land bis heute.“
Sicher wird dieser Satz Kritik auf sich ziehen – und vielleicht sagte der Präsident ihn gerade deshalb. Schon vor Gaucks Ansprache hatte sich Altbundespräsident Richard von Weizsäcker mit einer Würdigung Stauffenbergs zu Wort gemeldet. In der „Bild am Sonntag“ schrieb der 94-Jährige, die Botschaft von Stauffenberg und seinen Mitverschwörern sei „die Bereitschaft zu tun, was das Gewissen befiehlt – im Krieg wie im Frieden“.
Weizsäcker ist einer der letzten Menschen, die noch persönliche Erinnerungen an den Attentäter haben; er war ihm als junger Offizier ab 1942 mehrfach begegnet.