Ein Orkan fegte mit 145 km/h über Nordrhein-Westfalen hinweg. Die erschreckende Bilanz des ungewöhnlich starken Sommergewitters: sechs Tote und Schäden in Millionenhöhe.
An so einen Sturm kann sich niemand erinnern, und mit seinen Folgen wird das Ruhrgebiet noch Tage zu kämpfen haben: Zu viele Bäume liegen auf den Straßen, zu viele Oberleitungen hängen durch, zu viele Dachziegel fielen herunter. In etlichen Städten, darunter Bochum, Gelsenkirchen und Essen, bleiben am heutigen Mittwoch die Schulen noch geschlossen. Die Städte wollen die Gebäude auf Schäden untersuchen und die Bäume auf den Schulhöfen: ob sie überhaupt noch fest stehen?
Gesperrt sind vielerorts Sportplätze, Parks, Spielplätze, Friedhöfe und manchmal auch Freibäder. Insgesamt gilt die Warnung, man sollte mindestens eine Woche lang nicht in Wälder und Grünanlagen gehen: Denn in vielen Bäumen hängen noch ab- oder angebrochene, teilweise dicke Äste, die irgendwann herunterstürzen werden – und auch ganze Bäume können noch hinschlagen.
Der Gewittersturm „Christian“ war aus Südwesten über NRW gezogen und tobte sich mit Böen bis zu 143 km/h vor allem im Rheinland und über dem Ruhrgebiet aus. Keller und Garagen liefen voll, Dachziegel stürzten herab, Straßen wurden überflutet. Sechs Menschen starben, 30 wurden schwer verletzt und 37 leicht.
Erst fiel ein Baum, dann der nächste, dann wieder einer
In Düsseldorf erschlug ein Baum drei Menschen, als er auf das Gartenhäuschen fiel, in das sie sich gerettet hatten; die Feuerwehr befreite aus den Trümmern sechs Verletzte. In Köln wurde ein Radfahrer von einem Baum erschlagen, in Krefeld bekam ein anderer Radfahrer einen tödlichen Stromschlag, nachdem ein Baum in die Leitung gestürzt war. In Essen-Kray brach nach dem Sturm ein Mann zusammen und starb, der dabei war, in seiner Straße aufzuräumen.
Rund um Essen waren die A 40 und die A 52 stundenlang gesperrt, allein auf ihnen lagen 150 Bäume; auch die A 42 und die A 3 waren teilweise gesperrt. Viele Neben- und Vorstadtstraßen waren hoffnungslos überfüllt oder durch Baumbruch zu Sackgassen geworden. Die Bahn fuhr bis zum Nachmittag überhaupt nicht, es gab zum Beispiel keine Verbindung vom Ruhrgebiet in den Kölner Raum. Auch Busse, Straßen- und U-Bahnen starteten mit stundenlangen Verspätungen – und manche gar nicht. Ausnahmezustand im Ruhrgebiet.
Werner Bos erinnert sich. Er hatte seinen kleinen Sohn auf dem Schoß, er sollte einschlafen, aber damit ist es natürlich sofort vorbei, als eine Tanne runterkommt. „Plötzlich gab es einen Riesenknall, und dann lag der Baum vor der Tür“, erinnert sich der Bochumer. Und dann fiel der nächste Baum in der Berliner Straße. Und der nächste. „So was habe ich noch nicht gesehen.“
Zwölf Stunden nach dem Sturm des Jahrhunderts läuft hier der Verkehr zwar wieder. Aber es staut sich, hier und da muss man noch kurven, umgestürzte Bäume blockieren den Straßenrand. Aber sie liegen nicht mehr kreuz und quer wie noch um Mitternacht. „Bis halb zwei haben wir hier aufgeräumt, wir standen kniehoch im Wasser“, sagt Bos: „Aber was für eine Nachbarschaft!“ In dieser Nacht und am Morgen nach diesem Sturm hat das Ruhrgebiet die Ärmel aufgekrempelt. In die Hände gespuckt und angepackt. Es ist das Phänomen, das die Flutgebiete aus dem Osten kennen: dass hilft, wer kann, obwohl man sich nicht einmal kennt. Manchmal steht Hilfe sogar vor Selbsthilfe. In Oberhausen ist das zu sehen, in Essen-Borbeck, Menschen greifen zur Motorsäge und bahnen Autos den Weg, schneiden Schneisen in die Grünanlage nebenan, zwischen Baumwurzeln und Baumkronen.
Fremde grüßen einander, andere kommen problemlos ins Gespräch. Von „Angst“ sprechen einige, die so etwas noch nicht gesehen haben. Andrea K. aus Mülheim, die auf dem Weg zur Nachtschicht nach Düsseldorf links und rechts die Bäume stürzen sah und deren Wagen der Sturm plötzlich anhob. Tamara aus Mülheim, die eine Akazie auf ihre Garage krachen hörte, dann sah, wie das Wasser in den Keller lief und durch die geschlossenen Fenster ins Kinderzimmer.
Die meisten trauten sich in der Nacht nicht mehr auf die Straße; das Wetterleuchten wollte nicht aufhören, die dumpfen Schläge stürzender Äste, immer wieder drohten Böen, die nicht nur Zweige durch die Straßen trieben.
Wer sich im Auto früh morgens auf den Weg macht, erlebt eine Art Slalomfahrt. Vorbei an umgestürzten Bäumen, die Straßen verengen und Spuren sperren. Vorsichtig vorbei an abgesperrten Straßenstücken und durchhängenden Oberleitungen; „Feuerwehr-Sperrzone“ steht auf dem rot-weißen Flatterband. Vorbei an überfluteten Abschnitten, weil die Kanalisation die Wassermengen nicht fassen kann. Vorbei an leeren, verschlossenen Straßenbahnen: Abends haben viele Verkehrsgesellschaften zunächst ihre Fahrgäste in Sicherheit gebracht, dann die Fahrer – und dann die Bahn auf der Strecke stehen lassen.
Sieben Kleingärtner kriechen aus einer Laube, die ein Baum zerstört hat
Ein bisschen gespenstisch sieht das aus am Morgen, ein bisschen apokalyptisch. Und immer wieder gesperrte Straßen mit quer gestellten Streifenwagen: Nein, hier können Sie nicht weiter. Dahinter arbeitet das Technische Hilfswerk. Über 1000 Einsätze meldet Dortmund, wo der Sturm eine über 100-jährige Linde ausgerechnet auf den Eingang der Städtischen Kliniken warf, wo der Revierförster am Morgen sagen wird, dieser „Christian“ sei schlimmer gewesen als „Kyrill“ – wo es aber auch eine gute Gartenlaubengeschichte gibt: die von sieben Kleingärtnern, die nur leicht verletzt unter einem Baum hervorkrochen, der das Häuschen plattgemacht hatte.
In Bochum stürzte ein Baum auf einen Linienbus, verletzte aber niemanden, auf ein leeres Auto legte sich eine schwere Ampel – dabei war der kleine Renault gerade erst geschmückt worden mit einer Schnur von Deutschland-Fähnchen. In Essen hat eine Platanenallee kaum eine heile Platane mehr. Düsseldorf rät ab, überhaupt besucht zu werden – zu viele Bäume liegen im Weg. Am Essener Baldeneysee werden alle Wege gleich voll gesperrt: Lebensgefahr! 40 Liter hat es in Bochum in nur einer Stunde geregnet, macht vier Putzeimer. Die könnte man jetzt gebrauchen.