Bernd Lucke, Gründer der Alternative für Deutschland, greift die Koalition an und will sich nicht auf Euro-Kritik reduzieren lassen.
Hamburg. Der Zettel könnte auch im Bundeskanzleramt in Berlin hängen: „Nachhilfe in Makroökonomie gesucht. Bitte schnell melden unter …“ Deutschlands Regierungschefin Angela Merkel (CDU) gehen nämlich die Berater aus, die sich mit der reinen Lehre der Volkswirtschaft auskennen. Hat die „Zeit“ gerade beklagt. Vor den kahl-grauen Betonwänden der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg wirkt dieser Anschlag völlig normal. Am Ende eines quälend langen Ganges hat Prof. Dr. Bernd Lucke sein Büro samt Vorzimmer. Der Mann, der Angela Merkel gefährlich werden kann.
Denn der Beamte im Dienst der Wissenschaft ist Parteivorsitzender der Alternative für Deutschland (AfD). Die als Anti-Euro-Partei nur unzureichend beschriebene Bewegung hat bereits prominente Überläufer aus Union und FDP, tritt bei der Bundestagswahl an und sorgt für Unruhe in Regierungs- und Parteizentralen. Mal zwei, mal drei, mal vier Prozent erwarten die Meinungsforscher für die AfD am 22. September. Auch die Demoskopen sind uneins über den Umgang mit Prof. Luckes Club der Wirtschaftsweisen. Forsa sieht keine Chance auf Bundestagsmandate. Emnid-Geschäftsführer Klaus-Peter Schöppner sagt, jeder vierte Wähler könne sich vorstellen, die AfD zu wählen. Parteienforscher Oskar Niedermayer ließ sich dahingehend zitieren, dass die Partei mehr biete als ein Nein zum Euro.
Lucke ist Wissenschaftler. Verheiratet, fünf Kinder, Wohnort: Winsen an der Luhe. Der Habitus eines Spitzenkandidaten für eine Bundestagswahl ist ihm fremd. Helle Hose, das Hemd unter dem Pullover, Rucksack. „Ich bin sehr optimistisch, dass wir in den Bundestag einziehen“, sagt er. Außer auf den Euro legt die AfD Wert auf Themen wie Altersvorsorge und direkte Demokratie. „Den Bürgern wurde eine private Altersvorsorge in Eigenverantwortung aufgedrängt, aber die Rente ist jetzt überhaupt nicht sicher. Die Zinsen sind niedriger als die Inflationsrate, es gibt reale Vermögensverluste und keinen Anreiz mehr, Geld anzulegen. Wer sich verschuldet, hat es leicht. Das gilt auch für den Bundeshaushalt.“ Und die Demokratie brauche einfach mehr Mitbestimmung von Bürgern in der Politik. So spricht einer, der im Dezember 2011 seiner alten Partei den Rücken gekehrt hat, der CDU.
„Aber der innere Bruch kam schon früher.“ Die Euro-Rettungspolitik missfiel ihm. Lucke fühlte sich in seiner kühlen, volkswirtschaftlichen Sichtweise bestätigt. Staat um Staat geriet in die Schieflage. Die Rettungspakete wurden zahlreicher und größer. „Die Krise ist nicht gelöst, wir haben nur Geld darübergekippt.“ Lucke glaubt, dass die Euro-Krise noch vor der Bundestagswahl wieder aufflammen kann. Die Folgen für die Kapitalmärkte und die politische Stimmung in Deutschland wären gravierend. „Das ist kein Szenario, das mir gefällt. Allerdings zeichnet sich schon jetzt ab, dass Spanien nach der Bundestagswahl Mittel aus dem ESM beantragen muss.“
Die AfD hat nicht einmal die Drohrhetorik, die aus Teilen der CSU und der FDP zu hören war. Vom Rauswurf eines Landes wie Griechenland aus dem Euro ist nicht die Rede. Technisch geht das ohnehin nicht. Lucke glaubt jedoch, dass beispielsweise die Spanier selbst darauf kommen könnten auszutreten. „Um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu verbessern, muss eine Abwertung der Währung ermöglicht werden. Irgendwann werden die Spanier ihr Geschick selbst in die Hand nehmen wollen. Das kann der Austritt aus dem Euro-Raum sein.“ Am Fall Zypern hätte man studieren können, wie sich eine Staatspleite auswirkt. Den Zyprern, sagt Lucke, hätte man strengere Fesseln anlegen sollen. Wenn sie die nicht akzeptiert hätten, hätten sie ja austreten können. Zwischen Wunsch aus Brüssel, Spardruck und Erpressung gibt es aber in der Finanzkrise kaum einen Unterschied. So klingt Luckes Szenario am Ende auch so drastisch wie das der Rauswerffraktion.
Könnte es sein, dass der bisherige Weg der Euro-Rettung alternativlos war, wie Merkel zu sagen pflegt? Vielleicht war das Einrichten des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM auch positiv für die Bewältigung der Krise. Mit Kritik an den Euro-Kritikern müssen die 12.000 Mitglieder der AfD leben. Nur den Vorwurf des Populismus will sich der Parteichef nicht gefallen lassen. „Es ist eine Aufgabe jeder demokratischen Partei, Stimmungen aufzunehmen. Populismus hieße auch, dass wir unrealistische, leichte Lösungen anbieten. Das ist nicht so“, sagt Lucke. Einmal in Fahrt, gibt er Gas: „Im Gegenteil ist die FDP populistisch, die die Steuern senken und Schulden tilgen will. Beides geht aber nicht.“ Populistisch sei auch die Bundesregierung insgesamt, die behauptet, dass sich durch die Euro-Krise ohne massive Lasten für die Steuerzahler lösen lasse.
Lucke schleppt ein beachtliches wissenschaftliches Renommee mit sich herum, ohne dass er damit prahlt. Studium in Bonn und Berkeley (USA), Elite-Stipendiat, Doktorarbeit, FU Berlin, Habilitation, Forschungsprojekte, Aufsätze, Bücher, Berater der Weltbank, Studien im Nahen Osten, seit 1998 Professor in Hamburg. Aber zweimal nahm er eine Auszeit: Erziehungsurlaub. So hieß das, als das Elterngeld und die Vätermonate noch nicht erfunden waren. Auch seine Frau ist Wissenschaftlerin.
Für seine politische Arbeit hat Lucke seine Arbeitszeit geteilt. Auf der Internetseite der Universität steht riesengroß, dass man sich bei Fragen zur Alternative für Deutschland an die Partei wenden müsse. Job und AfD-Engagement muss er strikt trennen. Zieht die AfD tatsächlich in den Bundestag ein, muss die Professur ganz ruhen. Derzeit treiben Lucke allerdings noch Querelen in den Landesverbänden und bürokratische Hürden auf dem Weg zur Wahl um. Er spricht von langen To-do-Listen. „Wir mögen vielleicht die höchste Dichte von VWL-Professoren haben, aber die meisten Mitglieder sind normale Bürger.“
So ist das auch im Rest Europas: viele Experten, aber in der Mehrheit Durchschnittsbürger. Wenn man Luckes Büro verlässt und auf der Suche nach dem Treppenhaus einen Quergang nimmt, fällt einem ein weißes Plakat mit großen Buchstaben auf, ein Aushang des Wiso-Forschungslabors: „Teilnehmer an ökonomischen Experimenten gesucht.“