Verbände aus ganz Europa prangern das Verschwinden von EU-Fördergeldern an. Zehn bis zwölf Millionen Roma leben in Europa, die meisten in Armut und Ausgrenzung.
Hamburg. Der Schnee liegt wie eine weiße Decke über dem Volkspark. Wer an der Müllverbrennungsanlage abbiegt auf den Parkplatz, endet auf einem kleinen Gelände. Container stehen hier, Duschräume, Zelte mit Bänken und Tischen. Im Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Stellingen leben derzeit knapp 200 Menschen, darunter auch Obdachlose aus dem Winternotprogramm. Die Kapazitäten sind zu zwei Drittel ausgelastet. Auch Roma aus Südosteuropa wohnen hier.
In einem großen Raum mit Holzwänden sitzen Männer in Anzug und Krawatte und auch einige Frauen. Es sind Vertreter der Roma aus ganz Europa, Mazedonien, Rumänien, der Schweiz, Tschechien, Deutschland. Dolmetscher übersetzen von Romanes in Englisch und Deutsch.
Lokalpolitiker, Minister, Anwohner und Bürgerinitiativen reden derzeit wieder oft über "Armutswanderung", manche werfen mit Klischees um sich und machen Wahlkampf mit "den geplünderten Sozialkassen", andere nennen das Rassismus, wieder andere sprechen von den unmenschlichen Verhältnissen, in denen die Roma in ihren Heimatländern leben, einige fordern mehr Anstrengungen von den Roma bei der Anpassung an Deutschland. Das alles sind Stimmen dieser Debatte. Aber wer hört eigentlich die Stimme der Roma selbst? Auch das fragen sich die Vertreter auf ihrem Treffen in Stellingen.
Rudko Kawczynski trägt Anzug und einen kurz geschnittenen Vollbart. 1956, als Kawczynski noch ein Kind war, floh er mit seinen Eltern aus Polen nach Hamburg. Heute betreibt er im Sommer auf dem Gelände im Volkspark einen Durchreiseplatz für Roma. Und Kawczynski ist Präsident des European Roma und Travellers Forums (ERTF). Er hat die Vertreter der größten europäischen Minderheit nach Hamburg eingeladen. Sie sprachen einen Tag lang über Strategien für Europa im Umgang mit Roma, sie besuchten am Mittwoch das Rathaus und wurden vom Sozialsenator empfangen. Abends feierte die Roma und Cinti Union ihr 30-jähriges Bestehen mit einem Fest im Völkerkundemuseum.
Zehn bis zwölf Millionen Roma leben in Europa, die meisten in Armut und Ausgrenzung. Aus Staaten wie Mazedonien, Rumänien und Serbien fliehen die Menschen nach Spanien, Schweden, die Schweiz und auch nach Deutschland. In Hamburg hatten 2011 400 Personen aus den Balkan-Staaten Asyl gesucht, 2012 waren es 1133. Viele sind Roma. Fast alle Asylgesuche lehnt der Bund ab. Ein Grund für die steigenden Zahlen sehen Politiker wie Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) in dem Urteil des Verfassungsgerichts zu den Regelsätzen für Flüchtlinge. Danach verstießen die bisherigen Geldleistungen gegen die Menschenwürde. Sie wurden von 225 Euro monatlich auf 336 erhöht.
Kawczynski widerspricht: Armut sei zwar ein Symptom, nicht jedoch die Ursache dieser Wanderbewegungen. Denn während spanische oder griechische Roma trotz Armut nur äußerst selten ihre Heimat verließen, käme es in Osteuropa zu förmlichen Massenmigrationen. Immer wieder komme es dort zu systematischen Drangsalierungen gegen Roma. Asmet Elezovski vom mazedonischen National Roma Centrum erzählt auf der Konferenz in Hamburg vom Ausreiseverbot für Roma. In der Tschechischen Republik hingegen dürfen Städte störende Gruppen sogar ausweisen. Die Slowakei habe ein Programm gestartet, in dem Kinder aus Roma-Familien in Internaten umerzogen werden sollen. Dabei sind in den vergangenen Jahren viele Millionen Euro der EU nach Südosteuropa geflossen, um die Situation der Roma zu verbessern.
Doch Kawczynski sagt: "Viele Hundert Millionen Euro der EU sind in einem schwarzen Loch aus Korruption verschwunden." Und die rumänische Regierung etwa habe aus einem EU-Förderprogramm nur sieben von insgesamt 30 Milliarden Euro abgerufen, erklärt Georghe Raducanu, der bis vor Kurzem Beauftragter der rumänischen Regierung für die Roma war. Dass von diesem Geld wiederum nur 0,2 Prozent in Roma-Projekte geflossen seien, belege die Diskriminierung durch den Staat.
Vor allem in einem sind sich die Vertreter der Roma sicher: Die westlichen Staaten, die Heimatländer und auch die Roma selbst müssen die Situation der Menschen in den Herkunftsländern verbessern. "Doch alle Strategien sind bisher gescheitert", sagt Kawczynski. Eine Lösung sehen die Roma-Aktivisten in der Überprüfung der EU-Projekte. Fördermittel für Roma könnten durch eine europäische Stiftung für die Volksgruppe vergeben werden. Zudem müsste die Anzahl der Roma-Vertreter in den politischen Gremien der einzelnen Länder und der EU erhört werden. Wichtig sei Integration statt Ausgrenzung. Hoffnung setzen die Roma-Vertreter dabei in die Kommunen, denn die Städte seien von einer höheren Zuwanderung am stärksten betroffen - und daher am ehesten an einer fairen Lösung interessiert.