Ministerin Kristina Schröder will erste Studienergebnisse nicht veröffentlichen. Experten kritisieren Förderwust von Kindergeld bis Ehegattensplitting.
Hamburg/Berlin. Weniger Geburten, deutlich mehr Alleinerziehende, eine steigende Zahl von berufstätigen Frauen, die klassische Ehe ein Auslaufmodell - diese Kulisse führt zu einer heftigen Debatte um die Familienpolitik in Deutschland. Sie wird befeuert von einer Zahl, die den Steuerzahlern den Atem stocken lässt: 200,3 Milliarden Euro werden Jahr für Jahr in Kinder- und Familienpolitik gesteckt, vom Kindergeld bis zur kostenlosen Mitversicherung der Ehegatten in der gesetzlichen Krankenkasse, von der steuerlichen Absetzbarkeit von Kita-Gebühren bis zur Witwenrente.
Und die vorab aus einer Expertenstudie bekannt gewordenen Erkenntnisse zur Effektivität all dieser Leistungen und Regelungen setzen die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Druck. "Untauglich" und "wirkungslos" seien viele Maßnahmen, außerdem "widersprüchlich". Deshalb bemühte sich Familienministerin Kristina Schröder (CDU) um ein schnelles Dementi: Die 2009 in Auftrag gegebene Studie sei noch gar nicht fertig, ließ sie mitteilen. Auf einen Veröffentlichungstermin wolle man sich nicht festlegen. Immerhin sagte Schröder, dass es nicht nur darum gehe, die Geburtenrate in Deutschland zu steigern.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, der bemüht ist, das Thema aus dem anstehenden Bundestagswahlkampf herauszuhalten, sprach von "Gerechtigkeit zwischen den Familien". Man dürfe die Summe an Leistungen nicht nur am volkswirtschaftlichen Nutzen messen.
Das tun auch die Wissenschaftler nicht. Sie prüfen jedoch Elterngeld, Steuervorteile, Sozialrecht und anderes daran, ob es die Familien wirtschaftlich stabilisiert, ob Beruf und Familie vereinbar sind, ob Kinder gefördert werden und ob es Anreize gibt, überhaupt Kinder in die Welt zu setzen. "Die Förderkulisse ist historisch gewachsen, das ist noch keine Kritik an der aktuellen Bundesregierung", sagte Prof. Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) dem Abendblatt.
"Allerdings gibt es im internationalen Vergleich Nachholbedarf bei der Infrastruktur. Das Ehegattensplitting und das Kindergeld sollten nach unserer Meinung nicht ausgebaut, das Betreuungsgeld erst gar nicht eingeführt werden." Dagegen sollten die Betreuungsangebote in Kita und Schule verbessert werden. Das sieht der Kinderschutzbund genauso. Bundesgeschäftsführerin Paula Honkanen-Schoberth sagte dem Abendblatt, ein höheres Kinder- und das Betreuungsgeld seien die falschen Impulse. "Das Geld müsste in die Infrastruktur für optimale Kitas und Ganztagsschulen gesteckt werden."
Das Kindergeld komme Bedürftigen in Hartz-IV-Familien nicht zugute. Solange Kitas nicht kostenfrei seien, fordere der Deutsche Kinderschutzbund eine Kindergrundsicherung von 500 Euro im Monat: "So hätten Kinder unabhängig von Herkunft und Einkommen eine Chance zur Teilhabe."
Was die Einschätzung der Experten zum Förderwust in der Familienpolitik betreffe, sagte Honkanen-Schoberth: "Die Politik muss diese Einwände ernst nehmen."
Das tat bereits der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Er sagte "Spiegel Online", dass er als Regierungschef das gesamte System an Leistungen und Förderungen auf den Prüfstand stellen würde. "Wir brauchen eine Umstellung der Familienpolitik", so Steinbrück. "In Zukunft kann es nicht darum gehen, an einzelnen Instrumenten herumzutricksen."
Das bisherige SPD-Konzept, das von Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Manuela Schwesig mitentwickelt wurde, sieht vor, das Kindergeld nach Einkommen zu staffeln. Es soll auf bis zu 324 Euro pro Kind und Monat steigen. Im Gegenzug soll der Freibetrag für Betreuung abgeschafft werden. Nach einer Modellrechnung würde eine Familie mit zwei Kindern durch die Abschaffung des Freibetrages erst ab einem Jahreseinkommen von 70.000 Euro schlechter als heute gestellt.
Die deutschen Arbeitgeber begrüßen eine Radikalkur für die Familienpolitik: "Die heutigen Leistungen sind nicht aufeinander abgestimmt und widersprechen einander zum Teil sogar in der Zielsetzung. Wichtig ist, dass die Familienpolitik künftig sehr viel mehr darauf ausgerichtet wird, Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren zu können. Dazu müssen vor allem die Kinderbetreuung und Ganztagsschulangebote ausgebaut werden", heißt es in einer BDA-Stellungnahme.
"Wo beide Elternteile berufstätig sein wollen, sind Elterngeld und der Ausbau der Kinderbetreuung sinnvoll", sagte IW-Forscher Plünnecke. Er gab aber zu bedenken, dass in Mehrkindfamilien nicht unbedingt Vater und Mutter voll berufstätig sein müssten: "Man muss sich also fragen, welche Maßnahme auf welches Lebensmodell abzielt. Denn die Familien verlassen sich darauf." Das Leitbild der Alleinverdiener-Ehe mit Steuervorteil hält der Kinderschutzbund für überholt. "Man sollte Familien fördern, nicht die Institution Ehe", sagte Bundesgeschäftsführerin Honkanen-Schoberth.
Doch das rüttelt am Wertefundament des Landes. Die Ehe ist grundgesetzlich geschützt. Vom Steuervorteil des "Splittings" profitieren Millionen - auch Kinderlose. Experten jedoch sehen darin einen Anreiz für viele Frauen, eben nicht Vollzeit zu arbeiten. Dadurch entgingen dem Staat zusätzlich Milliarden an Steuereinnahmen, den Sozialversicherungen Abgaben.
CSU-Familienpolitiker Max Straubinger wetterte dagegen: "Für uns ist eine Mutter zu Hause kein Verlust von Humankapital." Und aus Thüringen meldete sich Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) und warnte vor "Schnellschüssen" in der Familienförderung: "Ich sehe in dieser Legislaturperiode keinen Handlungsbedarf der Politik."