Nach dem Einzug in vier Parlamente hat sich die Internetpartei fast zerfleischt. Beim Bundesparteitag wollen Hamburger neue Akzente setzen.
Hamburg. Industrielle Tierproduktion - was sagen eigentlich die Piraten dazu? Parteiantrag 188, BPT 2012.2, Punkt 7.3. Der Text leuchtet auf einer Leinwand. In der Parteizentrale der Hamburger Piratenpartei in der Sternschanze sind Biertische aneinandergeschoben. Draußen wird es dunkel, drinnen sitzen 15 Piraten vor Laptops. Antrag 188 also. Ob sie es beim Bundesparteitag in Bochum an diesem Wochenende überhaupt bis zu Nummer 188 schaffen, weiß noch niemand. Aber diskutieren ist ja erst mal gut.
Ein Pirat mit Kapuzenpulli lehnt den Antrag ab, weil er Massentierhaltung verbieten will. "Dann gibt's in Deutschland nur noch Biobauernhöfe, oder was?" Eine junge Frau fordert Mindeststellflächen bei Tierhaltung, ein Dritter wirft ein, dass Deutschland zehn Millionen Eier ungestempelt aus Polen einführe - für die Produktion von Teig und Nudeln. Ein Vierter: "Also, für Veganer ist der Antrag absolut zustimmungsfähig." Die Runde lacht. Die meisten in dem Raum finden den Antrag zu unkonkret. Zu wischiwaschi. Vorne am Tisch sitzt ein junger Mann mit Brille, er hat einen Extratisch. Er ist der Moderator und sagt jetzt: "Also, ich habe mal aufgeschrieben, dass es da noch Diskussionsbedarf gibt."
Gut ein Jahr ist es her, da zogen die Piraten in das Abgeordnetenhaus in Berlin ein - mit neun Prozent der Stimmen. Ein Paukenschlag. Es folgten Erfolge im Saarland, in Nordrhein-Westfalen, in Schleswig-Holstein. Im April standen die Piraten in Umfragen bei 13 Prozent. Die politische Landschaft war in Deutschland nicht mehr dieselbe, in ihrer Mitte lag ein großer orangener Fleck. Grün, rot, schwarz und gelb verblassten, vermischten sich inhaltlich mit Piratenorange. Weit über 50 Piratenparteien gibt es weltweit - in Deutschland haben sie die Chance, in ein nationales Parlament einzuziehen. Und dann könnte es an ihnen liegen, ob Schwarz-Gelb oder Rot-Grün regiert.
Thomas Michel sitzt am Kopf der Tische in der Sternschanze. Vor ihm steht kein Laptop, er lehnt sich meist zurück, hört zu, greift nur manchmal ein. Michel trägt eine Brille mit dünnem Rand, einen dunkelblauen Pullover, darunter ein Hemd. Man könnte ihn auch für einen SPD-Politiker halten. Vor zwei Wochen wurde er auf dem Landesparteitag der Piraten in Hamburg zum Vorsitzenden gewählt. Im Februar bestimmen sie hier die Liste der Kandidaten für die Bundestagswahl im Herbst. "Wir rechnen damit, dass wir maximal einen Bundestagsabgeordneten stellen werden. Unser Ziel sind fünf Prozent." Kaperfahrten in die Parlamente klingen anders.
Irgendwann zwischen den sonnigen April-Tagen und dem Herbst ist das Orange in Deutschland verblasst. In Forsa-Umfragen liegen die Piraten bundesweit noch bei vier Prozent, die Mitgliederzahlen wachsen nicht mehr, nur 60 Prozent zahlen ihren jährlichen Parteibeitrag von 48 Euro. Es gab zuletzt negative Presse, Shitstorms bei Twitter, Vorstand und Basis zofften sich.
Vielleicht ist dieser Bundesparteitag der Piraten in Bochum die letzte Chance, das Piratenschiff vor dem Untergang zu retten. Thomas Michel aber ist ganz ruhig. "Fehler gab es etliche. Es gibt bei den Piraten einen hohen Grad an Unerfahrenheit mit dem Parteiensystem." Und dann die ganze Euphorie nach Berlin, alle redeten über die Piraten, die erste neue Partei nach Gründung der Grünen. Die sind jetzt bürgerlich, es gibt Platz für eine Partei der neuen Generation. "Wir wollten zu viel in zu kurzer Zeit", sagt Michel. Was sagen die Piraten zur Euro-Krise? Gehört die Bundeswehr noch nach Afghanistan? Die Piraten hatten darauf noch keine Antwort.
Das Antragsbuch für den Parteitag ist 1455 Seiten dick, rund 800 Vorschläge für das Programm stehen zur Debatte. Was wirklich diskutiert wird, beschließen die Mitglieder erst vor Ort. Viele Themen stehen zur Auswahl: vor allem zur Wirtschaft, aber auch zu Transparenz, Familienpolitik, Urheberrecht, Jugendparlamenten, Bildung, Inklusion. "Inhalte, Inhalte, Inhalte", fordert Geschäftsführer Johannes Ponader. Parteichef Bernd Schlömer gibt vor: "Die Personaldebatten sind beendet." Jan Penz, Bezirksabgeordneter in Bergedorf, sagt: "Wir können uns nicht weiter zerfleischen."
Vorstandsmitglied Matthias Schrade trat zurück, weil er mit der Inszenierung Ponaders nicht mehr klarkam. Buchautorin Julia Schramm, ebenfalls im Vorstand, warf hin, als Mitglieder sie als "geldgeile Hure" beschimpften, weil ihr Verlag Verletzungen des Urheberrechts abmahnte. Bei den Piraten ein Tabubruch, schließlich gehört zur DNA der Partei auch die freie Nutzung des geistigen Eigentums.
Ponader hat Fehler eingeräumt, die zerstrittene Führung geht aufeinander zu. "Ein Teil von mir bleibt immer Freak", sagt Ponader. Und irgendwie war das ja auch das Tolle an dieser Partei. Ein bisschen Verrücktheit inmitten der immer gleichen Reden der immer gleichen Politiker in Berlin. "Es gibt bei den Piraten einen Ponader-Flügel", sagt der Hamburger Vorsitzende Michel. Es klingt nicht, als würde er dazugehören.
80 bis 100 Piraten seien derzeit in Hamburg aktiv. Knapp 40 von ihnen fahren nach Bochum zum Parteitag. Zwei Tage debattieren rund 2000 Piraten. Nicht viel Zeit, um Klarheit über Euro-Krise und Außenpolitik zu gewinnen. Aber das erwartet auch niemand. Die Piraten wissen, es geht auch um die richtigen Signale. Um eine neue Aufbruchsstimmung, die ihren Weg in die Schlagzeilen finden muss. Die junge Partei hat in einem Jahr Politikgeschäft schon viel gelernt.
Michel sagt, ihm sei bewusst, dass die Menschen vor allem die Themen Arbeit, Soziales und Gesundheit interessieren. "Aber wir müssen erst mal auf den Feldern arbeiten, auf denen wir sicher sind." In Hamburg engagieren sich die Piraten für ein bedingungsloses Grundeinkommen und progressive Drogenpolitik. Und gerade in Hamburg zeige sich doch mit dem neuen Gesetz, dass die Piraten Transparenz in der Politik voranbringen. Mit dem Transparenzgesetz müssen nun alle Verträge zwischen Stadt und Unternehmen offengelegt werden.
Allein 15 Anträge setzen sich in Bochum mit dem Thema auseinander. Für Europa fordert ein Antrag die Vergemeinschaftung der Schulden. Antrag PA 075 setzt auf ein Sorgerecht auch für nicht verheiratete Väter. Alle Anträge stehen im Internet. Niemand kann behaupten, die Piraten haben nichts anzubieten. Sie haben nur noch nicht herausgefunden wie sie ihre "flüssige Demokratie" der Mitbestimmung eines jeden Mitglieds in eine feste Form gießen.
Es gibt noch einen Antrag, PA 127. Dort steht: "Die Piratenpartei und ihre Mitglieder treten 2013 nicht zur Bundestagswahl an." Hamburgs Piratenchef Michel wird diesem Antrag nicht zustimmen. Er arbeite 2013 auf ein Ziel hin: Bundestagswahl. Wenn das Projekt Piratenpartei am Ende doch crasht, sagt Michel, war das sicher sein letzter Versuch, sich parteipolitisch zu engagieren.