Von A wie Atomausstieg bis Z wie Zensus. Die Deutschen haben ein politisch turbulentes Jahr erlebt. Hier finden Sie den Rückblick.
Berlin. Hinter den deutschen Politikern liegt ein bemerkenswertes Jahr mit einer außergewöhnlichen Dichte an Terminen und Veränderungen. Die Wehrpflicht ist abgeschafft, eine Kehrtwende in der Energiepolitik vollzogen, es gibt einen Ministerpräsidenten der Grünen. Vor allem aber hielt die Euro-Rettung die Politiker in Atem. Nachfolgend ein politischer Jahresrückblick von A bis Z.
A wie Atomausstieg: Die Reaktorkatastrophe von Fukushima bringt eine Kehrtwende in der deutschen Atompolitik . Vor einem Jahr hatte Schwarz-Gelb die AKW-Laufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert, Kanzlerin Angela Merkel pries dies als „Revolution“. Diese währte nur ein paar Monate. Angesichts der havarierten Reaktoren verhängt Merkel zunächst ein dreimonatiges Moratorium, an dessen Ende der Beschluss für den Atomausstieg und eine proklamierte Energiewende steht. Die großen Energieversorger bringt der Schwenk in schwieriges Fahrwasser.
B wie Bundespräsident: Staatsoberhaupt Christian Wulff gerät gegen Ende des Jahres in Bedrängnis . Grund sind die Umstände eines privaten Hauskredits durch ein befreundetes Unternehmerpaar. Die Koalition stützt „ihren“ Präsidenten. Zwei Tage vor Heiligabend entlässt Wulff seinen Sprecher Olaf Glaeseker und geht vor die Presse. Er entschuldigt sich für seinen Umgang mit der Kreditaffäre, betont aber zugleich, dass er zu keinem Zeitpunkt in einem seiner öffentlichen Ämter jemandem einen unberechtigten Vorteil gewährt habe. Wulff bekräftigt, er wolle im Amt bleiben.
C wie Castor-Transport: Anfang November kommt es im Wendland erneut zum Kräftemessen zwischen Atomkraftgegnern und der Polizei . Mit 125 Stunden braucht der Castor-Transport von der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague ins Zwischenlager Gorleben so lange wie nie zuvor. Der nächste Atommüll soll erst im Jahr 2014 in Gorleben eintreffen – dann allerdings aus dem britischen Sellafield. Bereits im Januar 2012 steht bereits ein Castor-Transport in Nordrhein-Westfalen an. Dort sollen auf der Straße vom ehemaligen Forschungsreaktor Jülich ins Zwischenlager Ahaus 152 Castoren transportiert werden.
D wie Dienen: „Wir. Dienen. Deutschland“ – so lautet der neue Slogan der Bundeswehr. Die Truppe steht in der größten Umstrukturierung seit Gründung . Deutschland steigt 2011 nach 55 Jahren aus der Wehrpflicht aus. Die Zahl der Soldaten soll auf 185.000 sinken, wobei 170.000 Zeit- und Berufssoldaten und die übrige freiwillig Wehrdienstleistende sind. Ein Viertel der Freiwilligen, die am 1. Juli ihren Dienst angefangen haben, ist schon wieder abgesprungen. Auch die Zahl der Standorte wird deutlich sinken. Der Zivildienst wird vom neuen Bundesfreiwilligendienst abgelöst, für die Zivis kommen nun die „Bufdis“.
E wie Euro-Rettung: Die Rettung des Euro hält Bundesregierung und Parlament das ganze Jahr über in Atem. Ein Krisengipfel jagt den nächsten, ohne dass sie die Märkte wirklich beruhigen können. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy („Merkozy“) bemühen sich um Gemeinsamkeit. Der Bundestag kommt kaum hinterher, sodass sich auch das Bundesverfassungsgericht mit der Parlamentsbeteiligung befassen muss. Nun sollen eine Fiskalunion und ein Vorziehen des dauerhaften Rettungsschirms ESM den Euro retten.
F wie FDP: Die Liberalen haben ein turbulentes Jahr hinter sich. Parteichef Guido Westerwelle wird im Frühjahr aus dem Amt gedrängt, bleibt aber Außenminister. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle muss auf den Fraktionsvorsitz wechseln. Philipp Rösler wird Parteichef, Wirtschaftsminister und Vizekanzler. Doch er kann den Niedergang der Partei nicht aufhalten, die in Umfragen zwischen bei drei Prozent vor sich hin dümpelt. Dann wirft auch noch Generalsekretär Christian Lindner das Handtuch . Den liberalen Weihnachtsfrieden rettet das Scheitern des Mitgliederentscheids gegen den Euro-Rettungsschirm ESM. Nun wird mit Spannung Röslers Rede beim Dreikönigstreffen am 6. Januar in Stuttgart erwartet.
G wie Grüne: Für die Grünen war 2011 ein Erfolgsjahr mit Hindernissen . Die Atomkatastrophe von Fukushima bringt der Partei nie gekannte Zustimmungswerte. In Baden-Württemberg wird mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grüner Ministerpräsident. In Berlin hofft man mit Renate Künast auf einen ähnlichen Coup. Dieser misslingt jedoch, der Berliner Landesverband zeigt sich hinterher zerrissen. Die Umfragewerte im Bund sind Ende 2011 nicht mehr ganz so herausragend, aber noch immer gut mit Werten zwischen 14 und 17 Prozent.
H wie Haushalt : Anders als einige süddeutsche Euro-Staaten stellt sich die Haushaltslage in Deutschland einigermaßen entspannt dar. Die Neuverschuldung 2011 wird vermutlich wegen der guten Konjunktur mit rund 20 Milliarden Euro nicht einmal halb so hoch sein wie geplant. Entwarnung ist aber nicht angesagt. Für 2012, wo 26,1 Milliarden Euro neue Schulden geplant sind, ist wegen des Vorziehens des Euro-Rettungsschirms ESM und der deutschen Beteiligung ein Nachtragshaushalt absehbar. Auch verbietet ein Blick auf die Schuldenuhr des Steuerzahlerbundes jede Euphorie. Demnach liegt die Staatsverschuldung bei über zwei Billionen Euro. Pro Sekunde kommen mehr als 1.500 Euro an Staatsschulden hinzu.
I wie Integration: Das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei vom 30. Oktober 1961 wird 50 Jahre alt. Viele sind als Gastarbeiter gekommen und holten später ihre Familien nach. 2011 leben fast drei Millionen türkischstämmige Menschen in Deutschland, gut ein Drittel hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Integration bleibt zwischen Deutschland und der Türkei ein heikles Thema. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan kritisiert immer wieder die deutsche Integrationspolitik, insbesondere den Zwang zum Deutschlernen. Deutschland würdige die Rolle der Türken im Land nicht genug, lautet ein weiterer Vorwurf.
J wie Justiz: Das Bundesverfassungsgericht hat auch 2011 alle Hände voll zu tun. Die Richter kippen die Sicherungsverwahrung und die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen. Immer wieder müssen sich die Verfassungsrichter mit dem Euro befassen. Die deutschen Euro-Hilfen werden bestätigt, aber das Sondergremium des Bundestages wird zunächst gestoppt. Das Urteil wird hier Anfang 2012 erwartet.
K wie Kirchen: Für die deutschen Katholiken ist der viertägige Deutschland-Besuch von Papst Benedikt XVI. im September der absolute Höhepunkt des Jahres. Doch sorgt das Kirchenoberhaupt auch für Enttäuschung. Viele vermissen Reformen in der Kirche, evangelische Christen Impulse für die Ökumene. Dauerthema für die Kirchen sind die immer neuen Fälle von Kindesmissbrauch durch Geistliche. Missbrauchsfälle in kirchlichen, aber auch staatlichen und privaten Einrichtungen führten zu einem „Runden Tisch“, der im Dezember 2011 seine Arbeit beendet. Missbrauchsopfer sollen Unterstützungen erhalten, im Internet soll es künftig eine zentrale Anlaufstelle geben.
L wie Linke: Die Linke fällt vor allem durch Personaldebatten auf. Die Parteispitze mit Gesine Lötzsch und Klaus Ernst bleibt umstritten. Linke-Fraktionsvize Dietmar Bartsch kündigt für 2012 die Kandidatur um den Parteivorsitz an. Spekuliert wird, ob Ex-Parteichef Oskar Lafontaine wieder in der Bundespolitik mitmischen will. Für Schlagzeilen sorgt Parteivize Sahra Wagenknecht durch ihre Beziehung zu Lafontaine . Bitter für die Linke: Nach der Abgeordnetenhauswahl in Berlin findet sich die Linke – bis dato Regierungspartei – in der Opposition wieder.
M wie Ministerpräsidenten: Gleich vier neue Ministerpräsidenten betreten 2011 die Bühne. Olaf Scholz von der SPD wird in Hamburg Erster Bürgermeister . In Baden-Württemberg wird Winfried Kretschmann erster Landeschef der Grünen in der Geschichte der Bundesrepublik. Reiner Haseloff (CDU) beerbt Wolfgang Böhmer in Sachsen-Anhalt. Im Saarland übernimmt Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) das Ruder der dortigen „Jamaika“-Koalition, weil es den langjährigen Ministerpräsidenten Peter Müller an das Bundesverfassungsgericht zog. Die beiden dienstältesten Länder-Chefs, beide von der SPD, machen derweil weiter. Kurt Beck, seit 1994 im Amt, bleibt Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, Klaus Wowereit (seit 2001) Regierender Bürgermeister in Berlin.
N wie NATO: Das Militärbündnis trägt zum Sturz Muammar Gaddafis in Libyen teil . Beim Beschluss über den NATO-Militäreinsatz im UN-Sicherheitsrat enthält sich Deutschland aber der Stimme und muss dafür viel Kritik einstecken. Unabhängig davon ist die Bundeswehr Ende des Jahres weltweit mit rund 7.000 Soldaten im Einsatz – in Afghanistan, im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, im Sudan, im Südsudan, im Mittelmeer, vor der Küste des Libanon und am Horn von Afrika.
O wie Occupy: Eine neue Bewegung erobert die Welt . Am 17. September 2011 startete im Zuccotti Park in Lower Manhattan in New York die Protestaktion „Occupy Wall Street“ (Besetzt die Wall Street). Die Aktivisten demonstrieren gegen soziale Ungleichheit unter dem Motto „Wir, die 99 Prozent, unternehmen etwas gegen die Gier und Korruption der ein Prozent“. Weltweit werden ähnliche Aktionen ins Leben gerufen, in Deutschland unter anderem in Frankfurt am Main, Berlin, Hamburg, München, Köln, Düsseldorf und Stuttgart.
P wie Piratenpartei: Mit der Piratenpartei gibt es eine neue parlamentarische Kraft in Deutschland. Der Web-affinen Partei gelingt im September mit satten 8,9 Prozent der Sprung ins Berliner Abgeordnetenhaus. Auch bundesweite Umfragen sehen die Piraten oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Auf ihrem Parteitag in Offenbach Anfang Dezember bemühen sich die Piraten um eine thematisch breitere Aufstellung und schwenken auf einen links-liberalen Kurs ein.
R wie Rechter Terrorismus : Der Rechtsextremismus in Deutschland hat eine neue Dimension angenommen. Über Jahre ermordete eine Terrorzelle namens Nationalsozialistischer Untergrund acht türkischstämmige und einen griechischstämmigen Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Die mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt töten sich, NSU-Mitglied Beate Zschäpe sitzt in Köln in Untersuchungshaft. Durch die Mordfälle offenbar werden Lücken in der Sicherheitsarchitektur durch die Zersplitterung von Zuständigkeiten in Bund und Ländern. Ein im Dezember gegründetes Gemeinsames Abwehrzentrum Rechts und eine Verbunddatei für gefährliche Rechtsextremisten sollen die Lücken schließen. Erneut wird über ein Verbot der rechtsextremen NPD debattiert.
S wie Stuttgart 21: Das Milliardenprojekt spült Grüne und SPD an die Landesregierung, wobei sich die neuen Partner in der Bahnhofsfrage nicht einig sind. Die Grünen wollen den Tiefbahnhof verhindern, die SPD ist dafür. Bei der Volksabstimmung im November setzen sich die Befürworter durch. Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen akzeptiert die Entscheidung. Die Bahn will im Kostenrahmen von 4,5 Milliarden Euro nun rasch bauen. Die Bauarbeiten zum Grundwassermanagement werden aber kurz vor Weihnachten gestoppt, weil nach einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg Auflagen zum Naturschutz nicht berücksichtigt worden seien.
T wie Terrorismus: Die zehnjährige Jagd nach dem Terrorpaten Osama Bin Laden ist zu Ende . In der Nacht zum 2. Mai wird er von US-Elitesoldaten in Pakistan aufgespürt und getötet. In Deutschland entbrennt eine heftige Debatte, ob man sich über den Tod des Al-Kaida-Führers freuen darf. Kritisiert wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die gesagt hatte: „Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.“ Der Vatikan entgegnet, zwar sei Bin Laden für den Tod vieler Menschen verantwortlich. Der Tod eines Menschen sei aber für einen Christen niemals ein Grund zur Freude.
U wie Union: Die Union bleibt in Umfragen die stärkste politische Kraft in Deutschland mit 34 bis 35 Prozent im Bund. Zwar mutet CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel ihrer Partei mit der Abkehr von der Wehrpflicht, der Hauptschule und der Atomkraft viel zu. Merkel bleibt aber unumstritten die Nummer Eins in der Union. In der CSU geht durch den Niedergang ihres Hoffnungsträgers Karl-Theodor zu Guttenberg Parteichef Horst Seehofer gestärkt ins neue Jahr. Für die Christsozialen wird eher 2013 entscheidend, wenn der Landtag neu gewählt wird. Mit dem Münchner Oberbürgermeister Christian Ude will die SPD einen ernst zu nehmenden Herausforderer aufbieten.
V wie Vermittlungsausschuss: Das Vermittlungsgremium von Bundestag und Bundesrat hat auch 2011 viel zu tun. Weil Union und FDP in der Länderkammer keine Mehrheit haben, müssen immer wieder Kompromisse ausgelotet werden. Über die Hartz-IV-Reform wird wochenlang gestritten , am Ende wird vor allem über die Kosten des Bildungspakets gezankt, bevor Ende Februar ein Kompromiss gelingt. Immer wieder auf der Tagesordnung stehen auch die energetische Gebäudesanierung und das CCS-Gesetz zur unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid. Zu beiden Gesetzen gibt es Ende 2011 noch immer keine Einigung.
W wie Wahlen : Sieben Landtagswahlen haben die politische Landschaft kräftig verändert. In Baden-Württemberg wird Winfried Kretschmann erster Ministerpräsident der Grünen . In Berlin gelingt das den Grünen nicht. Dort wird die CDU Juniorpartner der SPD. In Hamburg lösen die Sozialdemokraten die CDU ab und können sogar mit absoluter Mehrheit regieren. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bleibt es bei Rot-Schwarz, in Bremen bei Rot-Grün. In Rheinland-Pfalz hält die zuvor allein regierende SPD die CDU nur knapp auf Distanz und muss die Grünen mit ins Boot holen.
Z wie Zensus: 24 Jahre nach der letzten Volkszählung im Westen und 30 Jahre nach der letzten DDR-Volkszählung soll der Zensus 2011 mit Stichtag 9. Mai neue Aufschlüsse über die Bevölkerungsstruktur geben. Rund ein Drittel der Bürger muss als Wohneigentümer oder bei Haushaltsbefragungen Auskunft geben. Erste Ergebnisse sollen im Herbst 2012 vorliegen.