Auch mehr Spanier kommen ins Land. Experten sehen die Zuwanderung als ein Weg aus dem Fachkräftemangel in Deutschland.
Hamburg/Berlin. In den vergangenen Monaten waren Spanier und Griechen in Deutschland oft Gesprächsthema. Es ging darin viel um Reformen, Schulden, Last und Kosten. Krise, eben. Die Deutschen, heißt es oft, müssten ja so viel zahlen. Stimmt. Aber es ist nur die eine Seite der Krise, die negative. Doch für Deutschland birgt die brisante Situation auf den Arbeitsmärkten in europäischen Ländern wie Spanien und Griechenland auch ein Potenzial. Bis zum Jahr 2025 will die Bundesagentur für Arbeit bis zu 800 000 Fachkräfte durch sogenannte gesteuerte Zuwanderung nach Deutschland holen, heißt es.
Es sind Wege aus dem Fachkräftemangel, der Deutschland erfasst hat. Laut Branchenverband VDI mangelt es in der Bundesrepublik an 73 000 Ingenieuren, in wenigen Jahren könnten es 200 000 sein. Zigtausende weitere Stellen für Fachkräfte können ebenfalls nicht besetzt werden. Und dass hierzulande gut ausgebildete Arbeitskräfte gesucht werden, wissen längst auch Spanier und Griechen. Wohl auch angesichts der Schuldenkrise und der Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt in ihren Heimatländern suchen mehr Griechen und Spanier ihr Glück in Deutschland.
Aus Griechenland kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 84 Prozent mehr Einwanderer als im ersten Halbjahr 2010 - das war ein Anstieg um 4071 Griechen. Die Zuwanderung aus Spanien legte um 49 Prozent oder 2389 Personen zu. Griechenland und Spanien sind mit Arbeitslosenquoten von mehr als 18 Prozent und fast 23 Prozent die Schlusslichter in der Europäischen Union. Ob die neuen Einwanderer hierzulande erwerbstätig sind, ergibt sich aus der Statistik allerdings nicht.
Insgesamt verzeichnete die Bundesrepublik in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 435 000 Zuwanderer. Bei den Fortzügen waren es nur rund 300 000. Gegenüber dem Vorjahr ergibt das ein Plus von 19 Prozent. Aus Spanien wanderten insgesamt 7257 Menschen nach Deutschland ein, aus Griechenland 8890. Bedenkt man das Ausmaß der Krise in diesen Ländern, seien diese Raten allerdings keine Überraschung, meint Dr. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, dem Hamburger Abendblatt. "Die Goethe-Institute in Spanien sind voll mit Leuten, die Deutsch-Kurse nehmen. Ich gehe davon aus, dass sich der Auswanderungstrend fortsetzen wird", sagt der Experte. Im Ländervergleich fällt der Zuwachs aus Südeuropa relativ wenig ins Gewicht. Denn die meisten Menschen, die in den ersten sechs Monaten des Jahres nach Deutschland einwanderten, stammen aus Polen, Bulgarien und Rumänien. Allerdings sei zu erwarten, dass viele von ihnen nur als Saisonarbeiter ins Land kommen, meint Klingholz.
Die höchste Einwanderungswelle verzeichnete Deutschland jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Booms. 1965 zogen laut Statistischem Bundesamt rund 79 000 Menschen allein von Griechenland nach Deutschland, 1970 waren es sogar rund 95 000 Menschen.
Mehr noch als für die Gastarbeiter an den Fließbändern dieser Republik ist die deutsche Sprache für die heutigen Einwanderer wichtige Voraussetzung für einen Job in einem anderen Land. In Deutschland gibt es dafür Integrationskurse. Und die sind mittlerweile überdurchschnittlich gut von Europäern besucht. Am Hamburger Sprachzentrum Inlingua war Ende des ersten Halbjahres 2011 jeder fünfte Teilnehmer Spanier oder Grieche, eine Steigerung von fünf bis zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Arbeitgeberverbände begrüßen die neue Entwicklung der Zuwanderungszahlen: "Es ist erfreulich, dass Deutschland nicht länger ein Auswanderungsland ist, sondern wieder mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland zu uns kommen", sagte ein Sprecher der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) dem Hamburger Abendblatt. Der Fachkräftemangel werde vor allem im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich und in der Pflegebranche wegen der demografischen Entwicklung zunehmen.
Gleichzeitig fordert der BDA, mehr qualifizierte Zuwanderer anzulocken, "um den Wohlstand in Deutschland zu sichern". Gleichzeitig fordert der BDA eine neue Offenheit der Behörden gegenüber Einwanderern. "Auch in den zuständigen Behörden muss eine echte Willkommens- statt einer Abschottungskultur gelebt werden", sagte der Sprecher dem Abendblatt.
Bevölkerungsexperte Klingholz sieht dies ähnlich. Insgesamt werde zu wenig getan, um genügend Ausländer anzulocken. "Das Zuwanderungsplus ist gut. Es bedeutet, dass die Menschen auf die Arbeitsmarktsituation reagieren und dorthin gehen, wo sie gebraucht werden. Aber für Europa ist es insgesamt ein Nullsummenspiel: Alle Europäer haben sinkende Geburtenraten", erklärt er. Langfristig gesehen hält er deshalb auch die Öffnung Europas für Arbeitnehmer aus nicht europäischen Staaten für sinnvoll.
Chancen auf einen gut bezahlten Job haben besonders hoch qualifizierte Kräfte wie etwa Ärzte, Mathematiker, Ingenieure oder Softwareentwickler. Allerdings werden von ihnen wohl hauptsächlich die industriellen Ballungszentren in Süddeutschland profitieren. Erfahrungsgemäß gingen Zuwanderer eher in den Westen und Süden als in den Osten und Norden, sagt Experte Klingholz. "Nicht Berlin ist für die meisten das Ziel, sondern München, Frankfurt, Stuttgart, Nürnberg sind es."
In der bayerischen Landeshauptstadt München hat auch die Siemens AG einen der beiden Hauptsitze. Allein dem Elektrokonzern fehlen hierzulande rund 2500 Ingenieure, Informatiker und Naturwissenschaftler.