1992 setzten Rechte in Rostock ein Haus mit Ausländern in Brand. Die Aufarbeitung des Gewalt-Exzesses gelingt nur langsam
Rostock. Es ist gut drei Monate her, da bekamen die Menschen von Rostock-Lichtenhagen wieder Post von Michael Andrejewski. "Lauter Lügen über Lichtenhagen" stand auf dem Flyer, der kurz vor der Wahl zum Landtag in Mecklenburg-Vorpommern in den Briefkästen lag. Von "Propagandamärchen" ist dort die Rede, der Stadtteil sei als "Kulisse für dunkle Machenschaften missbraucht" worden.
Michael Andrejewski ist Politiker der rechtsextremen NPD. Auch im Sommer 1992 hat er Flugblätter in Lichtenhagen verteilt. "Widerstand gegen die Ausländerflut", stand da. 100 000-mal sollen sie in den Briefkästen von Lichtenhagen und Umgebung gelegen haben, durch die Aktion "Rostock bleibt deutsch". Wochen später warfen Rechtsradikale Molotowcocktails in ein Wohnhaus in Lichtenhagen. Sie grölten "Ausländer raus", einige streckten den Arm zum Hitler-Gruß, und 120 Vietnamesen fürchteten um ihr Leben. Viele Anwohner klatschten Beifall. Andrejewski galt schon bald als "ideologischer Brandstifter" der ausländerfeindlichen Ausschreitungen im August 1992. Heute sitzt er für die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern.
Wenn die Menschen in dem Stadtteil im kommenden Sommer der Anschläge vor 20 Jahren gedenken, werden die Bilder des brennenden Hauses wieder auf den Bildschirmen zu sehen sein, wird man die Hilfeschreie der Gejagten hören, die Wut verängstigter Anwohner gegen Polizisten wieder spüren, die erst gar nicht auftauchten und dann viel zu spät eingriffen. Auch jetzt, in den Wochen nach der Enttarnung der rechtsterroristischen "Zwickauer Zelle", berichten Journalisten wieder über die Tage von Lichtenhagen, in denen sich das frisch vereinigte Deutschland mit seiner hässlichen Seite auseinandersetzen musste.
Rainer Fabian machen die immer wiederkehrenden Bilder der brennenden Häuser wütend. Er sagt, die Menschen in Lichtenhagen wollten nicht im Damals feststecken. "Es geht um das Hier und Jetzt." Seit 1994 arbeitet Fabian mit Jugendlichen in Lichtenhagen, seit 1996 im Kolping Begegnungszentrum, das er heute leitet. Das flache Haus steht inmitten der Plattenbauten, die manchmal vier Stockwerke hoch sind und manchmal elf.
Vor Fabian auf dem Tisch liegt eine Liste mit 18 Veranstaltungen, auf denen die Initiative "Lichtenhagen bewegt sich" der Anschläge gedenken will, eine internationale Kochwoche, jüdische Theaterstücke, eine Sternfahrt mit Fahrrädern. Fabian und sein Team wollen die Menschen damit auch aus ihrer Lethargie holen, wie er sagt.
Es gibt ein großes Angebot, bereitgestellt von Bürgern wie ihm. In Fabians Worten klingt aber auch die Sorge mit, dass viele nicht mitmachen. Fabian will ein Miteinander von Migranten und Deutschen aufbauen - in einem Stadtteil mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen Alleinerziehenden. "Ich werde Hartz IV", sagen Kinder, wenn man sie nach ihrem Berufswunsch fragt. So pointiert fasst Fabian die Situation zusammen. Wer vor dem Supermarkt nachfragt, bekommt auch solche Sätze zu hören: "Ich habe andere Sorgen, als mich mit damals zu beschäftigen." Vergangenheitsbewältigung ist auch ein Luxus. Sie braucht Zeit und Geld.
Doch Fabian sagt auch: "Es entstehen Pflänzchen unseres Bemühens, aus denen bald ein Baum wachsen soll." Derzeit bereitet eine Koordinierungsgruppe aus Vereinen, Verwaltung und Senat den Jahrestag vor. Rostock sei eine weltoffene Stadt, dennoch gebe es auch heute noch am rechten Rand ausländerfeindliche Tendenzen, sagt Oberbürgermeister Roland Methling. "Die Lehren aus Lichtenhagen gelten fort." Das heiße aufklären, informieren.
Kritiker sagen: Es wurden viel zu wenig Lehren aus 1992 gezogen. Zehn Jahre vergingen, bis alle Gewalttäter von damals vor Gericht standen. Die meisten wurden freigesprochen. 215 Verfahren gegen beteiligte Jugendliche leiteten die Behörden ein - nur drei Täter müssen eine Haftstrafe absitzen. Der lange Abstand zwischen den Ausschreitungen und dem Prozess wirkte sich sogar strafmildernd aus. Es habe in vielen Fällen an Beweisen gefehlt, hieß es. Obwohl Fernsehsender, Presseagenturen und Lokalzeitungen intensiv berichteten und Bilder veröffentlichten. Gegen die geistigen Brandstifter und die Menschen, die den Rechten zujubelten, wurde bis heute nicht ermittelt.
Auch anderes wurde nicht vollständig aufgeklärt. Der Experte Hajo Funke von der Freien Universität Berlin nennt es die "Mischung aus Nachlässigkeit, Verantwortungslosigkeit und einem bewussten Geschehenlassen". Er meint die Politiker und Sicherheitsleute, die damals verantwortlich waren. Zwei Untersuchungsausschüsse tagten 1993: im Landtag und in der Rostocker Bürgerschaft. Und sie warfen viele ungeklärte Fragen auf: Wie konnte es überhaupt zu den Zuständen an der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber kommen? Mehr als 1000 Asylbewerber im Monat wurden damals nach Rostock gebracht. Flüchtlinge aus Rumänien und Vietnam campierten auf der Wiese zwischen den Hochhäusern - ohne Toiletten. Schon am 22. August konnten nur noch Wasserwerfer den rechten Mob vom Sturm auf die Aufnahmestelle abhalten. Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet stießen hinzu. Der Polizeichef von Rostock, Siegfried Kordus, schlug ein spätes Angebot aus Bonn zur Verstärkung der Polizeieinheiten ab. Verantwortliche waren im Urlaub oder nicht zu erreichen.
"Einige Politiker haben sich im Untersuchungsausschuss bemüht, aber viele haben die Aufklärung blockiert", sagt Funke. Er hat damals einige Sitzungen im Ausschuss verfolgt. Vieles sei heute noch nicht vollständig geklärt. Der Journalist Jochen Schmidt stellt sogar die These auf, dass die Herrschenden die Lage in Rostock bewusst eskalieren ließen, um ein Einlenken der SPD für die Verschärfung des Asylrechts zu bewirken. Schmidt war 1992 mit dem ZDF vor Ort. In seinem Buch "Politische Brandstiftung" sammelt er für seinen Vorwurf keine Beweise - aber unbequeme Indizien. Eines davon ist die Aussage des damaligen Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Berndt Seite (CDU). Die Vorfälle würden zeigen, dass eine "Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird". Zehn Monate später stimmt die SPD der Verschärfung zu.
Heute wohnen nur noch eine Handvoll Vietnamesen in dem Block, erzählt Maja Woest. Seit 1976 lebt sie in Lichtenhagen, unweit von dem Ort der Ausschreitungen. Als die Gewalt eskalierte, war sie bei Verwandten in Thüringen. Und doch kann auch sie die Ereignisse nicht vergessen: "Ich habe Jahre gekämpft dafür, dass Lichtenhagen seinen schlechten Ruf verliert." Engagement auch als Selbsttherapie. Woest steht vor dem Plattenbau, nichts erinnert an 1992. Die Wohnungen sind renoviert, ein Bestatter hat sein Büro im ersten Stock. Gemeinsam mit Fabian will Woest im Sommer eine Gedenktafel einweihen. Bisher sei das auch am Widerstand der Wohnungsgesellschaft gescheitert, sagt sie. Die Besitzer hätten Angst vor Schmierereien der Rechten.