Mit dem Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei begann vor 50 Jahren die türkische Zuwanderung. Geschichte einer Familie.
Sie sind gerade frisch Rentner geworden und leben in Winterhude. Die große Tochter arbeitet als Frauenärztin in einer norddeutschen Klinik, der Sohn ist glücklicher Freiberufler und die kleine Tochter hat nach ihrem Geschichtsstudium gerade ein Volontariat abgeschlossen. Zekiye und Sabri Pamuk haben das Feld bestellt, sie können ihr Leben nun genießen und ihre sechs Enkelkinder verwöhnen. Und wenn ihnen der Hamburger Herbst zu grau wird, fliehen sie an die türkische Mittelmeerküste.
Als sich Zekiye vor fast 40 Jahren, im Frühjahr 1972, auf den Weg ins gelobte Land "Almanya" machte, stellte sie sich diesen Herbst ihrer Geschichte nicht mal in den kühnsten Träumen vor. Gemeinsam hatten Zekiye und Sabri beschlossen auszuwandern, weil ihnen die Heimat nur eine Zukunft auf den Haselnuss- oder Tabakfeldern zu bieten hatte, deren Erträge kaum zum Überleben reichten. Sie wollten aber ein besseres Leben, ihren beiden Kindern eine Schulausbildung ermöglichen und nicht ein Leben lang auf den Plantagen schuften. Im Oktober 1961 hatten Deutschland und die Türkei ein erstes Anwerbeabkommen unterzeichnet. Und Deutschland brauchte noch weitere Gastarbeiter, der Wirtschaftsaufschwung schuf immer noch neue Arbeitsplätze. "Über Deutschland wussten wir eigentlich nur zwei Dinge", sagt Sabri heute, "es gab dort Arbeit und gutes Geld dafür, mehr nicht."
Mit anderen jungen Frauen von der Schwarzmeerküste setzte sich Zekiye in den Bus nach Istanbul. Sabri, die vierjährige Tochter und der zweijährige Sohn blieben zurück. Sabri sollte so bald wie möglich nachkommen, die Kinder nicht. Die Eltern wollten ja nur ein paar Jahre in Deutschland arbeiten, um dann mit dem Verdienten in der Heimat neu anzufangen; warum sollte man da die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung reißen?
In Istanbul angekommen, unterzog sich Zekiye im Verbindungsbüro einem Gesundheitscheck. Zu den Ausschlusskriterien gehörte unter anderem eine Schwangerschaft. Deutschland brauchte robuste junge Frauen, keine Mütter mit schreienden Babys. Zekiye hatte Glück, sie wurde für gesund und nicht schwanger erklärt.
Ins Verbindungsbüro kamen auch die Personalchefs deutscher Firmen, um sich vor Ort die zukünftige Belegschaft selbst auszusuchen. Am nächsten Morgen stand Zekiye neben anderen Frauen in einer Reihe und wartete. Herr Eckhof betrat den Raum. Der Personalchef der Firma Kühne aus Hamburg schritt die Reihe ab und deutete mit dem Finger auf alle jungen Frauen, die er für seine Firma haben wollte. Insgesamt suchte er 40 Frauen aus, darunter auch Zekiye. Die Frauen wurden nach München geflogen und bekamen bei der Ankunft einen Beutel Verpflegung für die Weiterreise in die Hand. Anschließend ging es mit dem Zug weiter nach Hamburg.
"Wir wurde in einem Wohnheim an der Warnstedtstraße untergebracht", sagt Zekiye. "Die Frau des Hausmeisters verteilte uns auf die Zimmer. Pro Zimmer gab es sechs Betten und einen großen Schrank mit sechs Fächern. Duschen und Toiletten waren im Flur." An die folgende Geschirrausgabe erinnert sich Zekiye noch genau: "Jede von uns wurde mit genau einem Löffel, einer Gabel und einem Teller ausgestattet." Danach durften sie sich einen Tag lang ausruhen.
Die Einarbeitung dauerte nicht lange. "Ich stand am Fließband und steckte saure Gurken in Gläser, von 7 bis 16 Uhr, mit 45 Minuten Pause dazwischen. Das war meine erste Arbeit in Deutschland." Und die Kommunikation mit deutschen Kolleginnen? "Zuerst verständigten wir uns nur mit Händen und Füßen. Manchmal halfen andere Landsleute, die schon länger bei Kühne arbeiteten, und schließlich lernten wir mit der Zeit selbst ein bisschen Deutsch."
An manchen Wochenenden besuchte sie ihren großen Bruder, der schon seit den Sechzigern in Hannover lebte. Insgesamt 13 Monate arbeitete Zekiye an den Fließbändern der Firma Kühne und hielt brieflich Kontakt zu Sabri. "Alle Briefe an uns kamen beim Pförtner an, der sie an die Scheiben seines Häuschens lehnte, damit man von draußen gleich den Empfänger sehen konnte. Nach jeder Schicht liefen wir aufgeregt wie Hühner zum Pförtnerhäuschen, um zu gucken, ob ein Brief für uns an der Scheibe war. Bei den Glücklichen, die ihre Namen fanden, war die Freude groß. Bei anderen, die vergeblich suchten, flossen oft Tränen. Kein Brief hieß, keine Lebenszeichen von der Familie, keine Nachricht aus der Heimat."
Ein Jahr später konnte sie Sabri im Rahmen der Familienzusammenführung nachholen. Seine Anreise war weniger komfortabel, er brauchte mit dem Zug von Istanbul nach Hamburg vier Tage. Zunächst mussten sie ein Zimmer bei einem Landsmann anmieten, der wiederum seine Wohnungsmiete auf originelle Weise refinanzierte, wie Sabri immer noch staunend erzählt: "Es war nur eine Drei-Zimmer-Wohnung, aber er hatte tatsächlich ein weiteres Zimmer an ein anderes Paar untervermietet. Er selbst lebte mit drei kleinen Kindern und seiner Frau im dritten Zimmer und wohnte damit praktisch umsonst. Keine Ahnung, wie sie es zu fünft in einem einzigen Zimmer ausgehalten haben, der Landsmann hatte es mit dem Geldverdienen wohl sehr eilig. Aber manche heutigen Probleme hatte Hamburg schon damals, es gab viel zu wenig Wohnraum." Er fing als Reinigungskraft im gerade neu gebauten Plaza-Hotel am Dammtor an wie fast alle nachgeholten Ehemänner der türkischen Kühne-Arbeiterinnen. Nebenher besuchte er Sprachkurse. Schließlich fanden Zekiye und Sabri 1974 über eine Zeitungsanzeige eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Winterhude und konnten bei ihrem sparsamen Großvermieter endlich ausziehen. Im selben Jahr flogen die beiden auch in den ersten Heimaturlaub. Nach zwei Jahren sah Zekiye ihre Kinder wieder.
Danach fingen sie in Hamburg gemeinsam bei Lumoprint an, einer Firma, die Fotokopierer herstellte. Zekiye arbeitete am Montageband und Sabri in der Dreherei. Die folgenden Jahre vergingen im Rhythmus von elf Monaten Arbeit in Hamburg und einem Monat Heimaturlaub. Währenddessen wuchsen die Kinder bei Sabris Vater auf.
Selbst in den wenigen Urlaubswochen konnten sich Zekiye und Sabri kaum um ihre Kinder kümmern, weil sie von Familie und Verwandtschaft mit anderen Verpflichtungen beladen wurden: "Als ob sie ein ganzes Jahr lang sämtliche Probleme und Aufgaben sammelten, die wir dann in nur vier Wochen lösen und erledigen durften. Wir waren so jung und naiv und versuchten es tatsächlich nach besten Kräften." Alles andere als erholt packte Zekiye schließlich die Koffer für die Rückreise und bat ihre Schwägerin Gülten, mit den Kindern zum Spielen an den Fluss zu gehen. Sie sollten nicht sehen, wie ihre Urlaubseltern wieder verschwanden. Wie hat sie als junge Mutter Ende zwanzig dieses jährliche Abschiedsritual verkraftet? Das Leben ohne die eigenen Kinder in Hamburg? Zekiye ringt lange um Worte. "Das kann ich bis heute nicht beschreiben", sagt sie mit belegter Stimme. "So eine Erfahrung wünsche ich niemandem."
Nach sieben Jahren in Hamburg mussten Zekiye und Sabri sich eingestehen, dass es mit der "schnellen" Rückkehr nichts mehr werden würde. Mit dem bisher verdienten Geld hatten sie ihre Schulden in der Heimat beglichen und die Familie versorgt, aber noch nichts für sich selbst kaufen oder aufbauen können. Bekannte und Freunde, die wieder zurückgekehrt waren, bereuten diesen Schritt ausnahmslos.
Dazu herrschten in der Türkei Ende der Siebzigerjahre bürgerkriegsähnliche Zustände. In einem politisch vergifteten Klima lieferten sich rechte und linke Gruppierungen täglich gewalttätige Auseinandersetzungen und das ganze Land war bis ins letzte Kuhdorf politisiert. Jeder musste sich zu einem politischen Lager bekennen und dementsprechend handeln. "Es starben viele Unbeteiligte, weil sie versehentlich zwischen die Fronten gerieten", erzählt Sabri. "Wir bekamen Angst, dass unseren Kindern etwas Ähnliches passieren könnte. Und wir hatten uns schon sehr an das Leben in Hamburg gewöhnt, mehr als wir uns eingestehen wollten." Als sie endlich die Kinder nachholten, war Tochter Nurten elf Jahre alt und Sohn Kerim neun.
Sie schulten die beiden ein und unterstützten sie bei der Eingewöhnung in das neue Leben nach besten Kräften. Aber bald stießen sie an Grenzen, wie Zekiye einräumt: "Wir arbeiteten den ganzen Tag und hatten noch einen Nebenjob viermal die Woche. Und wir kannten uns im hiesigen Schulsystem nicht aus. Für die beiden Kinder war alles neu, die Sprache, Schule, die Umgebung. Und selbst die Eltern waren ja neu. Wir waren damals wohl keine große Hilfe."
Nur langsam gewöhnten sich Eltern und Kinder aneinander. Die 1980er-Jahre brachten weitere Veränderungen ins Leben: Zekiye und Sabri bekamen 1981 eine kleine Tochter, Yasemin, und sie mussten sich nach einer neuen Arbeit umsehen, weil Lumoprint pleitegegangen war. Sabri fand schnell eine Anstellung in der Dreherei bei Rotring, einem Schreibartikelhersteller. Etwas später kam Zekiye bei einer Tochterfirma von Rotring unter, bestückte und lötete dort Leiterplatten. Nach sechs Jahren wurde sie wiederum entlassen.
"Langsam wurde alles automatisiert, und Roboter begannen unsere Arbeit zu machen. Für ungelernte Kräfte wie mich wurde die Arbeit immer knapper." Sie konnte noch ein Jahrzehnt bei zwei anderen Elektronikfirmen arbeiten, aber danach war Schluss: "Ich saß mit vielen anderen in einer Schulung der Arbeitsagentur und sollte lernen, wie man mit dem Computer eine Bewerbung schreibt. Ein Haufen arbeitsloser Arbeiterinnen Anfang fünfzig schrieb Bewerbungen für Stellen, die es längst nicht mehr gab."
Sabri hatte mehr Glück und blieb bis zu seiner Rente bei Rotring. Dennoch konnte er die Folgen der Globalisierung aus nächster Nähe verfolgen. Seine Firma wurde von einem internationalen Konzern übernommen, der weitere Schreibartikelhersteller wie Parker aufkaufte. "Sie lösten den Parker-Produktionsstandort in Baden-Baden auf und verlagerten die Herstellung nach Hamburg. Dafür wurden ganze Abteilungen von Rotring nach China verlegt. Von den Chefs gab es immer dieselbe Begründung: Die Produktionskosten in Deutschland seien viel zu hoch. Als ich bei Rotring damals anfing, arbeiteten in meiner Abteilung 26 Dreher in zwei Schichten. Als ich im Frühjahr in Rente ging, waren es mit mir nur noch zwei." Er ist froh, dass er bis zum Schluss arbeiten konnte und keine Angst mehr um seinen Arbeitsplatz haben muss. Jetzt kann er mit seiner Frau den verdienten Ruhestand genießen.
Wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückblicken, gibt es etwas zu bereuen? Was würden sie im Nachhinein anders machen? "So schnell wie möglich die Kinder nachholen", antworten die beiden sofort, "und ein Haus würde ich kaufen", ergänzt Sabri. Denn nach 40 Jahren ist Hamburg ihre zweite Heimat geworden. In die erste können sie jetzt öfter fliegen, vor allem wenn der nasskalte Herbst einsetzt. Aber der Lebensmittelpunkt wird Hamburg bleiben. "Wir haben die Kindheit unserer Kinder verpasst, aber unsere Enkel möchten wir auf jeden Fall aufwachsen sehen", sagt Zekiye, und Sabri nickt.